Bertolt Brecht: Das epische Theater (um 1936)

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In seinem Essay Das epische Theater wendet sich Bertolt Brecht gegen die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung zwischen dramatischer und epischer Form. Seit der Entwicklung des bürgerlichen Romans beobachtet er eine langsame Verwischung der Gattungsgrenzen (Gattungen), die sich auch immer stärker in der Dramatik bemerkbar macht und machen soll, denn diese Grenzverwischung ist inhaltlich motiviert und notwendig: "Die wichtigsten Vorgänge unter Menschen [können] nicht mehr so einfach dargestellt werden". (S. 53). In einer immer unübersichtlicher und komplexer werdenden Welt reicht es nicht mehr aus, die Handlung eines Einzelnen auf die Bühne zu bringen. Die einfache Darstellung von handelnden Personen läßt das, was ihre Handlungen hervorruft – also die Gesellschaft mit ihren spezifischen Gesetzen – nicht mehr selbstverständlich transparent werden. Der Zuschauer weiß nicht mehr, warum sich der Held so oder so entscheidet: "Zum Verständnis der Vorgänge war es nötig geworden, die Umwelt, in der die Menschen lebten, groß und 'bedeutend' zur Geltung zu bringen." (S. 53f.) Hier setzt das epische Theater an: "Die Bühne begann zu erzählen. Nicht mehr fehlte mit der vierten Wand zugleich der Erzähler. Nicht nur der Hintergrund nahm Stellung zu den Vorgängen auf der Bühne, indem er auf großen Tafeln gleichzeitige andere Vorgänge an anderen Orten in die Erinnerung rief, Aussprüche von Personen durch projizierte Dokumente belegte oder widerlegte, zu abstrakten Gesprächen sinnlich faßbare, konkrete Zahlen lieferte, zu plastischen, aber in ihrem Sinn undeutlichen Vorgängen Zahlen und Sätze zur Verfügung stellte – auch die Schauspieler vollzogen die Verwandlung nicht vollständig, sondern hielten Abstand zu der von ihnen dargestellten Figur, ja forderten deutlich zur Kritik auf." (S. 54)

Das Drama bietet bei Brecht mehr als die Darstellung von "handelnden Personen" (Aristoteles in seiner Poetik), es gibt vielmehr einen Erzähler und den informierenden Zwischentitel. Auch der Schauspieler wird nicht mehr nur zur Figur, sondern bleibt Schau-Spieler. Dies soll nicht nur der besseren Verständlichkeit der Handlungen der Figuren in einer hochkomplexen Gesellschaft dienen, sondern auch die von Aristoteles bis Lessing bekannte 'Einfühlung' des Zuschauers in den Protagonisten verhindern:

"Von keiner Seite wurde es dem Zuschauer weiterhin ermöglicht, durch einfach Einfühlung in dramatische Personen sich kritiklos (und praktisch folgenlos) Erlebnissen hinzugeben. Die Darstellung setzte die Stoffe und Vorgänge einem Entfremdungsprozeß aus. Es war die Entfremdung, welche nötig ist, damit verstanden werden kann. Bei allem 'Selbstverständlichen' wird auf das Verstehen einfach verzichtet. [...]

Der Zuschauer des dramatischen Theaters sagt: Ja, das habe ich auch schon gefühlt. – So bin ich. – Das ist natürlich. – Das wird immer so sein. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es keinen Ausweg für ihn gibt. – Das ist große Kunst: da ist alles selbstverständlich. – Ich weine mit den Weinenden, ich lache mit den Lachenden.

Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. – So darf man es nicht machen. – Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. – Das muß aufhören. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe. – Ich lache mit den Weinenden, ich weine über den Lachenden." (S. 54f.)

Die 'Einfühlung' wird bei Brecht zur problematischen Kategorie, weil sie die Möglichkeit verdeckt, daß es auch einen anderen Handlungsverlauf hätte geben können. Die dargestellte Situation, hätte nicht zwangsläufig in der Katastrophe – auf die nach Gustav Freytag jedes Drama zusteuert – enden müssen.

Dieses neue Lehrtheater soll jedoch nicht nur über das grundsätzliche Vorhandensein von Handlungsmöglichkeiten 'belehren', den Zuschauer also nicht nur über seine eigenen – auch politischen – Möglichkeiten aufklären, sondern auch – und vielleicht sogar vornehmlich – unterhalten:

"Das Theater bleibt Theater, auch wenn es Lehrtheater ist, und soweit es gutes Theater ist, ist es amüsant." (S. 58)

Theater, das Theater bleibt, ist für Brecht nicht nur unterhaltend, sich der Einfühlung widersetzend, sondern ist gleichzeitig "Theater für ein wissenschaftliches Zeitalter". Was ist darunter zu verstehen? Brecht beschreibt das Verhältnis von Theater und Wissenschaft wie folgt:

"Kunst und Wissenschaft wirken in sehr verschiedener Weise, abgemacht. Dennoch muß ich gestehen, so schlimm es klingen mag, daß ich ohne Benutzung einiger Wissenschaften als Künstler nicht auskomme. Das mag vielen ernste Zweifel an meinen künstlerischen Fähigkeiten erregen. Sie sind es gewohnt, in Dichtern einzigartige, ziemlich unnatürlich Wesen zu sehen, die mit wahrhaft göttlicher Sicherheit Dinge erkennen, welche andere nur mit großer Mühe und viel Fleiß erkennen können. Es ist natürlich unangenehm, zugeben zu müssen, daß man nicht zu diesen Begnadeten gehört. Aber man muß es zugeben [...]. Ich muß sagen, ich benötige die Wissenschaften [...]."

Brecht kommt zu der Überzeugung, daß der Dichter in einer so komplexen Gesellschaft wie der des 20. Jahrhunderts mit all ihrem Expertenwissen und Spezialistentum, nicht länger durch Gefühl, Intuition, Phantasie, Genialität in der Lage ist, sich in jede Situation hineinzuversetzen, um sie zu schildern. Die politischen oder wirtschaftlichen Strukturen sind so komplex, daß man sich auch als Dichter der Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften bedienen muß, um wirtschaftliche und / oder politische Prozesse verstehen und beschreiben zu können. Selbst die menschliche Psyche, z.B. der Seelenzustand eines Mörders, ist nur durch die moderne Psychoanalyse zu begreifen.

©rein

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