"Der Aufbau der historischen Welt in den Geisteswissenschaften"

Drucken

"Hineinversetzten, Nachbilden, Nacherleben"

Die Stellung, die das höhere Verstehen seinem Gegenstande gegenüber einnimmt, ist bestimmt durch seine Aufgabe, einen Lebenszusammenhang im Gegebenen aufzufinden. Dies ist nur möglich, indem der Zusammenhang, der im eigenen Erleben besteht und in unzähligen Fällen erfahren ist, mit all den in ihm liegenden Möglichkeiten immer gegenwärtig und bereit ist. Diese in der Verständnisaufgabe gegebene Verfassung nennen wir ein Sichhineinversetzen, sei es in einen Menschen oder ein Werk. Dann wird jeder Vers eines Gedichtes durch den inneren Zusammenhang in dem Erlebnis, von dem das Gedicht ausgeht, in Leben zurückverwandelt. Möglichkeiten, die in der Seele liegen, werden von den durch die elementaren Verständnisleistungen zur Auffassung gebrachten äußeren Worten hervorgerufen. Die Seele geht die gewohnten Bahnen, auf denen sie einst von verwandten Lebenslagen aus genoß und litt, verlangte und wirkte. Unzählige Wege sind offen in Vergangenheit und in Träumen der Zukunft; von den gelesenen Worten gehen unzählige Züge der Gedanken aus. Schon indem das Gedicht die äußere Situation angibt, wirkt dies darauf begünstigen, dass die Worte des Dichters die ihr zugehörige Stimmung hervorrufen. Auch hier macht sich das schon erwähnte Verhältnis geltend, nach welchem Ausdrücke des Erlebens mehr enthalten, als im Bewusstsein des Dichters oder Künstlers liegt, und darum auch mehr zurückrufen. Wenn nun so aus der Stellung der Verständnisaufgabe die Präsenz des eigen erlebten seelischen Zusammenhangs folgt, so bezeichnet man das auch als die "Übertragung" des eigenen Selbst in einen gegebenen Inbegriff von Lebensäußerungen.

Auf der Grundlage dieses Hineinversetzens, dieser Transposition entsteht nun aber die höchste Art, in welcher die Totalität des Seelenlebens im Verstehen wirksam ist - das Nachbilden oder Nacherleben. Das Verstehen ist an sich eine dem Wirkungsverlauf selber inverse Operation. Ein vollkommenes Mitleben ist daran gebunden, dass das Verständnis in der Linie des Geschehens selber fortgeht. Es rückt, beständig fortschreitend, mit dem Lebensverlauf selber vorwärts. So erweitert sich der Vorgang des Sichhineinversetzens, der Transposition. Nacherleben ist das Schaffen in der Linie des Geschehens. So gehen wir mit der Zeitgeschichte vorwärts, mit einem Ereignis in einem fernen Lande oder mit etwas, das in der Seele eines uns nahen Menschen vorgeht. Seine Vollendung erreicht es, wo das Geschehnis durch das Bewußtsein des Dichters, Künstlers oder Geschichtsschreibers hindurchgegangen ist und nun in einem Werk fixiert und dauernd vor uns liegt.

Das lyrische Gedicht ermöglicht so in der Aufeinanderfolge seiner Verse das Nacherleben eines Erlebniszusammenhangs: nicht des wirklichen, der den Dichter anregte, sondern dessen, den auf Grund von ihm der Dichter einer idealen Person in den Mund legt. Die Aufeinanderfolge der Szenen in einem Schauspiel ermöglicht das Nacherleben der Bruchstücke aus dem Lebensverlauf der auftretenden Personen. Die Erzählung des Romanschriftstellers oder Geschichtsschreibers, die dem historischen Verlauf nachgeht, erwirkt in uns ein Nacherleben. Der Triumph des Nacherlebens ist, daß in ihm die Fragmente eines Verlaufs so ergänzt werden, daß wir eine Kontinuität vor uns zu haben glauben.

Worin besteht nun aber dies Nacherleben? Der Vorgang interessiert uns hier nur in seiner Leistung; eine psychologische Erklärung desselben soll nicht gegeben werden. So erörtern wir auch nicht das Verhältnis dieses Begriffs zu dem des Mitfühlens und dem der Einfühlung, obwohl der Zusammenhang derselben darin deutlich ist, daß das Mitfühlen die Energie des Nacherlebens verstärkt. Wir fassen die bedeutsame Leistung dieses Nacherlebens für unsere Aneignung der geistigen Welt ins Auge. Sie beruht auf zwei Momenten. Jede lebhafte Vergegenwärtigung eines Milieus und einer äußeren Lage regt Nacherleben in uns an. Und die Phantasie vermag die Betonung der in unserem eigenen Lebenszusammenhang enthaltenen Verhaltungsweisen, Kräfte, Gefühle, Strebungen, Ideenrichtungen zu verstärken oder zu vermindern und so jedes fremde Seelenleben nachzubilden. Die Bühne tut sich auf. Richard erscheint, und eine bewegliche Seele kann nun, indem sie seinen Worten, Mienen und Bewegungen folgt, etwas nacherleben, daß außerhalb jeder Möglichkeit ihres wirklichen realen Lebens liegt. Der phantastische Wald in "Wie es euch gefällt" versetzt uns in eine Stimmung, die uns alle Exzentritäten nachbilden läßt.

Und in diesem Nacherleben liegt nun ein bedeutender Teil des Erwerbs geistiger Dinge, den wir dem Geschichtsschreiber und dem Dichter verdanken. Der Lebensverlauf vollzieht an jedem Menschen eine beständige Determination, in welcher die in ihm liegenden Möglichkeiten eingeschränkt werden. Die Gestaltung seines Wesens bestimmt immer jedem seine Fortentwicklung. Kurz, er erfährt immer, mag er nun die Festlegung seiner Lage oder die Form seines erworbenen Lebenszusammenhangs in Betracht ziehen, daß der Umkreis neuer Ausblicke in das Leben und innerer Wendungen des persönlichen Daseins eingegrenzter ist. Das Verstehen öffnet ihm nun ein weites Reich von Möglichkeiten, die in der Determination seines wirklichen Lebens nicht vorhanden sind. Die Möglichkeit, in meiner eigenen Existenz religiöse Zustände zu erleben, ist für mich wie für die meisten heutigen Menschen eng begrenzt. Aber indem ich die Briefe und Schriften Luthers, die Berichte seiner Zeitgenossen, die Akten der Religionsgespräche und Konzilien wie seines amtlichen Verkehrs durchlaufe, erlebe ich einen religiösen Vorgang von einer solchen eruptiven Gewalt, von einer solchen Energie, in der es um Leben und Tod geht, daß er jenseits jeder Erlebnismöglichkeit für einen Menschen unserer Tage liegt. Aber nacherleben kann ich ihn. Ich versetze mich in die Umstände: alles drängt in ihnen auf eine so außergewöhnliche Entwicklung des religiösen Gemütslebens. Ich sehe in den Klöstern eine Technik des Verkehrs mit der unsichtbaren Welt, welche den mönchischen Seelen eine beständige Richtung des Blicks auf die jenseitigen Dinge gibt: die theologischen Kontroversen werden hier zu Fragen de inneren Existenz. Ich sehe, wie, was sich in den Klöstern so bildet, durch unzählige Kanäle - Kanzeln, Beichte, Katheder, Schriften - in die Laienwelt sich verbreitet; und nun gewahre ich, wie Konzilien und religiöse Bewegungen die Lehre von der unsichtbaren Kirche und dem allgemeinen Priestertum überallhin verbreitet haben, wie sie zu der Befreiung der Persönlichkeit im weltlichen Leben in Verhältnis tritt; wie so das in der Einsamkeit der Zelle, in Kämpfen von der geschilderten Stärke Errungene der Kirche gegenüber sich behauptet. Christentum als eine Kraft, das Leben selbst in Familie, Beruf, politischen Verhältnissen zu gestalten - das ist eine neue Macht, der der Geist der Zeit in den Städten und überall, wo höhere Arbeit getan wird, in Hans Sachs, in Dürer entgegenkommt. Indem Luther an der Spitze dieser Bewegung dahingeht, erleben wir auf Grund eines Zusammenhangs, der vom Allgemeinmenschlichen zu der religiösen Sphäre und von ihr durch deren historischer Bestimmung bis zu seiner Individualität dringt, seine Entwicklung. Und so öffnet uns dieser Vorgang eine religiöse Welt in ihm und in den Genossen der ersten Reformationszeiten, die unseren Horizont in Möglichkeiten von Menschenleben erweitert, die nur so uns zugänglich werden. So kann der von innen determinierte Mensch in der Imagination viele andere Existenzen erleben. Vor dem durch die Umstände Beschränkten tun sich fremde Schönheiten der Welt auf und Gegenden des Lebens, die er nie erreichen kann. Ganz allgemein ausgesprochen: der durch die Realität des Lebens gebundene und bestimmte Mensch wird nicht nur durch das Verstehen des Geschichtlichen in Freiheit versetzt. Und diese Wirkung der Geschichte, welche ihre modernsten Verkleinerer nicht gesehen haben, wird erweitert und vertieft auf den weiteren Stufen des geschichtlichen Bewusstseins.

"Die Auslegung oder Interpretation"

Wie deutlich zeigt sich im Nachbilden und Nacherleben des Fremden und Vergangenen, daß das Verstehen auf einer besonderen persönlichen Genialität beruht! Da es aber eine bedeutsame und dauernde Aufgabe ist als Grundlage der geschichtlichen Wissenschaft, so wird die persönliche Genialität zu einer Technik, und diese Technik entwickelt sich mit der Entwicklung des geschichtlichen Bewußtseins. Sie ist daran gebunden, daß dauernd fixierte Lebensäußerungen dem Verständnis vorliegen, so daß dieses immer wieder zu ihnen zurückkehren kann. Das kunstmäßige Verstehen dauernd fixierter Lebensäußerungen nennen wir "Auslegung". Da nun das geistige Leben nur in der Sprache seinen vollständigen, erschöpfenden und darum eine objektive Auffassung ermöglichenden Ausdruck findet, so vollendet sich die Auslegung in der Interpretation der in der Schrift enthaltenen Reste menschlichen Daseins. Diese Kunst ist die Grundlage der Philosophie. Und die Wissenschaft dieser Kunst ist die Hermeneutik.

Mit der Auslegung der auf uns gekommenen Reste ist innerlich und notwendig die Kritik derselben verbunden. Sie entsteht aus den Schwierigkeiten, welche die Auslegung bietet, und führt so zur Reinigung der Texte, zur Verwerfung von Aktenstücken, Werken, Überlieferungen. Auslegung und Kritik haben im geschichtlichen Verlauf immer neue Hilfsmittel zur Lösung ihrer Aufgabe entwickelt, wie die naturwissenschaftliche Forschung immer neue Verfeinerungen des Experiments. Ihre Übertragung von einem Geschlecht der Philologen und Historiker auf das andere ruht vorwiegend auf der persönlichen Berührung der großen Virtuosen und der Tradition ihrer Leistungen. Nichts im Umkreis der Wissenschaft scheint so persönlich bedingt und an die Berührung der Personen gebunden als diese philologische Kunst. Wenn nun die Hermeneutik sie auf Regeln gebracht hat, so geschah das im Sinne einer geschichtlichen Stufe, welche Regelgebung auf allen Gebieten durchzuführen strebte, und dieser hermeneutischen Regelgebung entsprachen Theorien des künstlerischen Schaffens, welche auch dieses als ein Machen, das als Regel geschehen kann, auffaßten. In der großen Periode des Aufgangs zum geschichtlichen Bewusstsein in Deutschland ist dann diese hermeneutische Regelgebung von Friedrich Schlegel, Schleiermacher und Boeckh durch eine Ideallehre ersetzt worden, die das neue tiefere Verstehen auf eine Anschauung vom geistigen Schaffen gründet, wie sie Fichte möglich machte und die Schlegel in seinem Entwurf einer Wissenschaft der Kritik aufzustellen gedachte. Auf dieser neuen Anschauung vom Schaffen beruht der kühne Satz Schleiermachers, es gelte, einen Autor besser zu verstehen als er sich selbst verstand. […]

Quelle