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Chronik

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gr. chronicon, lat. chronica, auch: chronographia: Zeitbuch

Die Chronik ist eine Form der Geschichtsschreibung, die in der Antike entwickelt wurde und noch im hohen und späten Mittelalter eine Blütezeit erlebte. Ziel der Chronik ist es (im Kontrast zu den möglichst alle Ereignisse auflistenden "Annalen"), die Geschehnisse in größeren Zeiträumen überschauend darzustellen, miteinander zu verknüpfen und in eine Epochengliederung zu entwickeln. In letzter Konsequenz strebt sie eine Darstellung der gesamten Weltgeschichte seit der Schöpfung an (Lehre von den Weltaltern). Mittelalterliche Beispiele dafür sind die Chronica maiora des Isidor von Sevilla (6./7. Jahrhundert) oder die ebenfalls lateinisch verfasste Freisinger Chronik (12. Jahrhundert). Deutschsprachige Chroniken gibt es seit dem 13. Jahrhundert; besondere Verbreitung und Wirkung hatte die Weltchronik des Hartmann Schedel (1493 lateinisch und deutsch). Goethe berichtet in Dichtung und Wahrheit, daß Ludwig Gottfrieds Historische Chronik (um 1634, mit Illustrationen von Matthäus Merian) zu seiner frühesten Lektüre gehört hatte.

Nach Inhalt und 'Reichweite' sind Weltchroniken, Kaiser- und Königschroniken, Landeschroniken, Kloster- und Städtechroniken (für Köln schon 1270!), schließlich die Familienchroniken zu nennen, die seit der Renaissance in Italien, bald aber auch in den deutschen Handelsstädten entstehen und ein neues Medium bürgerlichen Selbst- und Traditionsbewusstseins, aber auch eine Vorform der Autobiographie bilden. Bekannt ist etwa die Zimmerische Chronik (1566).

Während die historische Gebrauchsform der Chronik mit der Ausbildung eines modernen Geschichtsbewusstseins von komplexeren Darstellungsformen abgelöst wird und heute nur noch als populäre Gebrauchsform weiterlebt (Dorf- oder Vereinschronik), hat sie als literarisches Strukturmodell, besonders in der fiktionalen Erzählprosa, eine Art zweite Karriere gemacht.

In dem Maße, in dem sich seit dem 18., besonders aber zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein modernes Geschichtsbewusstsein ausbildet (und auch die Sonderform des historischen Romans hervorbringt), wird eine Novelle oder ein Roman häufig als "Chronik" präsentiert. Die Erzählung stützt sich dabei angeblich auf historische Dokumenten (eine Chronik im engeren Sinne, oder Briefe, Tagebuchaufzeichnungen etc.). Der fiktive "Chronist" (also die Erzählerinstanz) ist seiner historischen Distanz zum Geschehen bewusst und macht sie den Lesern bewusst. Denn die "Chronik als Form hält sich an die Oberfläche des historischen Geschehens und an die Kontinuität des Zeitablaufs. Der Bericht zählt auf, ohne Wesentliches und Unwesentliches immer genau zu unterscheiden. Die Darstellung der Chronik hält sich an die Handlungen und Ergebnisse, ohne die innersten Beweggründe und Erlebnisse detailliert zu erforschen." (Burkhardt Lindner) Damit hält die chronikalische Erzählweise dem Leser einen erheblichen Spielraum der Interpretation offen. In der deutschen Literatur finden sich fingierte Chroniken bzw. chronikalische Erzählungen seit dem 18. Jahrhundert, verstärkt in der Romantik und vor allem im Realismus. Bekanntestes Beispiel eines solchen Romans, der den Gattungsbegriff auch im Titel führt, ist die Chronik der Sperlingsgasse von Wilhelm Raabe (1857). In Buddenbrooks (1901) von Thomas Mann lässt sich sehr gut beobachten, wie eine reale Chronik (der Familie Mann) zunächst als Quelle, dann als Motiv und schließlich die Chronik als Strukturmodell des Erzählens benutzt wird - und wie dieses altmodisch-chronikalische Erzählen von der modernen, individualistisch-psychologischen Darstellung überlagert und abgelöst wird.

Im weitesten Sinne kann der Begriff der Chronik, als historisches Erzähl-Modell, dann sogar in anderen Gattungen strukturell oder metaphorisch verwendet werden. So gebraucht Bertolt Brecht die Genrebezeichnung "Chronik" in seiner Lyrik (Hauspostille, 1927; Svendborger Gedichte, 1939) für Gedichte, die man gattungspoetisch als Balladen oder (historische) Erzählgedichte bezeichnen könnte. Sein Drama Mutter Courage nennt Brecht im Untertitel Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg.

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Sekundärliteratur

  • H. Wenzel: Höfische Geschichte. Literarische Tradition und Gegenwartsdeutung in den volkssprachigen Chroniken des hohen und späten Mittelalters, Bern 1980.
  • J. Vogt: Thomas Mann. "Buddenbrooks", Kap. IV: Zwischen Familienchronik und psychologischem Roman, München 1983.