Startseite Index

Marcel Proust

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

* 10.07. 1871, Auteuil
† 18.11. 1922, Paris

französischer Romancier

"Mit Recht hat man gesagt, daß alle großen Werke der Literatur eine Gattung gründen oder sie auflösen, mit einem Worte, Sonderfälle sind. Unter ihnen ist aber dieser einer von den unfaßlichsten. Vom Aufbau angefangen, welcher Dichtung, Memoirenwerk, Kommentar in einem darstellt, bis zu der Syntax uferloser Sätze [...] ist alles außerhalb der Norm. Daß dieser große Einzelfall der Dichtung gleichzeitig ihre größte Leistung in den letzten Jahrzehnten darstellt", ist eine Behauptung Walter Benjamins (1929), die im Kern auch heute noch gelten darf.

Proust Werk, genauer: sein siebenbändiges Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (A la recherche du temps perdu), das zwischen 1913 und 1927 (in wesentlichen Teilen also posthum) erschien, ist ein herausragendes Monument europäischer Romankunst des 20. Jahrhunderts. Neben ihm können sich - was ästhetischen Anspruch, innovative Ausführung und internationale Wirkung angeht - allenfalls James Joyce und Franz Kafka behaupten. Wo aber bei Kafka die Schreibbewegung immer wieder abbricht, gelingt es Proust, zuletzt ein wenig gewaltsam, seinen gigantischen Roman zu Ende zu führen. Das ist deshalb wichtig, weil der wesentlich von diesem Ende, von der "wiedergefundenen Zeit" her konstruiert ist: Die erzählte Handlung endet damit, dass der Erzähler beschließt, den Roman zu schreiben, den wir gerade gelesen haben...

Es handelt sich, sehr schematisch gesehen, um einen autobiographischen Roman, in dem der Ich-Erzähler mit seinen Erlebnissen seit der frühesten Kindheit zugleich die unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten "erzählt", eben diese Erlebnisse zu erinnern. Die inzwischen legendären Anfangspartie - "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen" - demonstriert das Versagen des willentlichen oder bewussten Erinnerns und die geheimnisvolle Kraft der "unwillkürlichen Erinnerung" (mémoire involontaire), die in den Tiefen des Vorbewussten gespeichert ist und durch zufällige Sinneswahrnehmungen: einen bestimmten Geschmack, Geruch, eine Tonfolge, eine Farbe, eine Berührung - ausgelöst wird und dadurch auch den Schreibfluss in Gang setzt. Tatsächlich lagern die dreitausend Seiten des Romans und die Fülle seiner Personen und Ereignisse auf einer Reihe solcher "Epiphanien" wie eine Kuppel auf ihren Säulen. Den Stoff des Erzählens, gewissermaßen das Baumaterial liefert des Verfassers "Pariser Kindheit um 1900", d.h. die Sozialisationsgeschichte eines kränkelnden jungen Mannes aus jüdisch-großbürgerlicher Familie, der die ländliche Sommerfrische (Bd. I: In Swanns Welt) und ausgedehnte Ferienaufenthalte an der See genießt (Bd. 2: Im Schatten junger Mädchenblüte), der sich in Paris sehr bald in bürgerlichen und aristokratischen Gesellschaftszirkeln bewegt und am Kunstleben des fin de siècle - Musik, Oper, Malerei, Literatur - teilnimmt (Bd.3: Die Welt der Guermantes). Verstrickungen in Erotik und Eifersucht (Bd.5 und 6: Die Gefangene, Die Entflohene) und die Schattenwelt der Perversionen (Bd.4: Sodom und Gomorra) rücken in den Vordergrund, bevor - nun schon nach dem Ersten Weltkrieg - der Erzähler im 7. und letzten Band (Die wiedergefundene Zeit) mit der Einsicht in die unaufhaltsame Vergänglichkeit paradoxerweise auch den Ansatz zu seiner Niederschrift findet, in welcher (wie es im letzten Satz des Romans heißt) alle "Menschen", die ihm einst begegneten, ihren "Platz" finden werden "in der ZEIT."

Dass diese Handlung nur den "Unterbau" darstellt, versteht sich bei einem Roman der klassischen Moderne von selbst. Was Proust unverwechselbar macht, und womit er über seine Vorläufer (René de Chateaubriand, Honoré de Balzac, Gustave Flaubert) weit hinausgeht, ist eine bislang kaum gekannte Präzision und Differenziertheit in der Beschreibung von Dingen, Wahrnehmungen und Empfindungen. Sie kann zum Instrument der psychologischen Ich-Erkundung oder der satirischen Gesellschaftszeichnung werden, aber auch - quasi-essayistisch - der kunsttheoretischen und philosophischen Reflexion dienen. Neben dieser syntaktischen Differenzierung sind ausgesuchte, bisweilen preziöse Vergleiche und Metaphern für Proust Stil typisch, die bisweilen zu die wahren Exkursen oder Miniatur-Essays ausgefaltet werden.

Proust Recherche ist, nach einer kurzen Phase der Irritation von Publikum und Kritik, seit dem Prix Goncourt von 1919 in Frankreich und dann auch international zur Kenntnis genommen und bewundert worden. Als bezeichnendes Beispiel darf Samuel Becketts Essay Proust (1931) gelten. Im deutschsprachigen Bereich wurden Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal auf Proust aufmerksam, ehe der Romanist Ernst Robert Curtius (1925) und der Kritiker Walter Benjamin (der an der ersten Übersetzung von 1925/26 beteiligt war) sich für ihn einsetzten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die durch Theodor W. Adorno angeregte Neuübersetzung von Eva Rechel-Mertens (1957) das deutsche Lesepublikum wieder mit dem französischen Jahrhundertautor bekannt gemacht.

© JZ

Wichtige Schriften

  • Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Deutsch von Eva Rechel-Mertens, 3 Bde., Frankfurt/M. 1989.

Sekundärliteratur

  • S. Beckett: Proust. Essay, Frankfurt/M. 1989.
  • A. Corbineau-Hoffmann: Marcel Proust: A la recherche du temps perdu. Einführung und Kommentar, Tübingen u.a. 1993.
  • K.Kemp: Der Roman von Proust. Ein Überblick, Basel u.a. 1988.