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Homer: Odyssee (um 700 v. Chr.)

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Nach der Ilias ist die um 700 v. Chr. entstandene Odyssee das älteste Werk der griechischen und damit der abendländischen Literatur. Das aus 12200 Hexameterversen bestehende Epos erzählt in 24 Gesängen von der durch viele Irrwege verzögerten Heimfahrt des zum griechischen Heer gehörenden Trojakämpfers Odysseus. Wie die Ilias beginnt auch die Odyssee mit einem Musenanruf: "Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes." (I, 1) Die Erzählung setzt ein mit einer Sitzung der olympischen Götter, bei der die Göttin Athene dafür plädiert, den bereits im achten Jahr von Kalypso festgehaltenen Odysseus, König von Ithaka, zu seiner Gattin Penelope und seinem Sohn Telemachos zurückkehren zu lassen. Die Handlung wird zunächst in zwei Strängen geführt: Während Athene sich nach Ithaka begibt und Telemachos dazu bewegt, sich auf die Suche nach seinem Vater zu begeben, wird der Götterbote Hermes zu Kalypso gesandt, um Odysseus freizubitten. Odysseus begibt sich daraufhin mit einem Floß auf den Heimweg, erleidet aber bei einem vom Meeresgott Poseidon geschickten Unwetter Schiffbruch und erreicht mit letzter Kraft das rettende Ufer im Land der Phaiaken. Am Hof des Königs trägt bei einem festlichen Gastmahl ein Rhapsode (Sänger) Lieder über den durch die berühmten Krieger Achilleus und Odysseus herbeigeführten Untergang Trojas vor. Odysseus, der seine Identität bislang nicht preisgegeben hatte, wird durch die Erinnerung an seine Geschichte gerührt und beginnt zu weinen. Auf Wunsch des Königs des Phaiaken erzählt er nun seine Geschichte. Erst diese Rückblende, Erzählung in der Erzählung, unterrichtet den Leser von den Abenteuern, die Odysseus vor seinem Aufenthalt bei Kalypso bestanden hatte: die Blendung des Poyphem, die Überwindung der verführerischen Sirenen, der frevelhafte Diebstahl der Sonnenrinder, den die Gefährten des Odysseus mit dem Leben bezahlten und viele mehr. Im zweiten Teil des Epos wird nun die Heimkehr des Odysseus geschildert: Nachts fährt er vom Land der Phaiaken nach Ithaka, verkleidet sich dort auf Anraten Athenes als Bettler und begibt sich zu dem Sauhirten Eumaios, der ihn freundlich bewirtet, obwohl er ihn nicht als seinen König erkennt. Nun werden die beiden Erzählstränge zusammengeführt: Telemachos kehrt von seiner ergebnislosen Suche nach dem Vater zurück und trifft ebenfalls beim Sauhirten ein. Auf getrenntem Wege begeben sie sich in die Stadt und Odysseus kommt verkleidet in sein eigenes Haus, den Königspalast, wo unzählige Freier um die Hand seiner Frau Penelope anhalten und bei Gelagen seine Reichtümer verprassen. Die verzweifelte Penelope hat einen Wettkampf zur endgültigen Auswahl eines zukünftigen Ehemannes angesetzt: Aber es ist der Bettler Odysseus, der, nachdem alle anderen Bewerber die Aufgabe nicht lösen konnten, als einziger den mächtigen Bogen spannen und den Pfeil durch zwölf Äxte schießen kann. Nun gibt er sich zu erkennen und tötet gemeinsam mit Telemachos alle Bewerber. Seine Frau Penelope aber kann er nur dadurch davon überzeugen, daß er wirklich Odysseus ist, daß er sein Wissen um das Geheimnis der Konstruktion des Ehebettes zu erkennen gibt.

Stärker als die Ilias ist die Odyssee auf die Geschichte eines Helden ausgerichtet. Darüber hinaus ist Odysseus weniger ein strahlender Held, ein unerreichbarerer Heros, wie die Protagonisten der Ilias, sondern er ist ein vorbildlicher Charakter: er trägt die Beinamen der Listenreiche und der göttliche Dulder und zeichnet sich eher durch menschliche und soziale als durch heroische Züge aus. Gerade durch diese individualisierenden Tendenzen der Odyssee ist dieses Epos vielleicht noch einflußreicher für die Entwicklung der gesamten abendländischen Literatur geworden als die Ilias - nicht zufällig liest GoethesWerther die Odyssee (nicht etwa die Ilias) und schreibt James Joyce einen Ulysses. Hegel vertritt in seiner Ästhetik die These, daß der epische Held Odysseus kein individuelles Schicksal, sondern das der Gemeinschaft trage, und stellt dieses den heroischen Weltzustand kennzeichnende Entsprechungsverhältnis von Individuum und Ganzem ("Totalität") dem entwurzelten Subjekt des modernen Romans gegenüber. Adorno / Horkheimer schließlich zeigen in der Dialektik der Aufklärung am Beispiel des sich gegen mythische Naturgewalten behauptenden Odysseus, daß schon im Mythos Aufklärung steckt: Sie lesen die Odyssee als Urgeschichte der Subjektivität.

©TvH

Quelle

  • Homer: Ilias. Odyssee, übers. v. J.H. Voß, Frankfurt/M. 1990.

Sekundärliteratur

  • J. Latacz: Homer. Der erste Dichter des Abendlandes, 2. Aufl., München 1989.
  • U. Hölscher: Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, München 1988.
  • Th.W. Adorno / M. Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1988.