Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730)

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Johann Christoph Gottsched hat in seiner Poetik nicht nur Regeln für die Produktion von lyrischen und epischen Werken bereitgestellt, sondern auch für das Drama, dessen Hauptaufgabe er in der sittlich-moralischen Erziehung der Deutschen sieht. Deshalb fordert er den Dichter auf, zunächst die von ihm gewünschte Aussage festzulegen:

"Zuallererst wähle man sich einen moralischen Satz, der in dem ganzen Gedichte zum Grunde liegen soll, nach Beschaffenheit der Absichten, die man sich zu erlangen vorgenommen. Hierzu ersinne man sich eine ganz allgemeine Begebenheit, worin eine Handlung vorkommt, daran dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fällt." (S. 96f.)

Die Handlung muß nach dem Vorbild der Wirklichkeit, der Natur dargestellt werden. Der Dichter muß das Gegebene nachahmen (Mimesis) und darf mit seiner Darstellung das Wahrscheinliche nicht überschreiten. Götter, die in das Geschehen im Drama eingreifen, sind völlig unglaubwürdig und sollen von der Bühne verbannt werden.

Bei der Unterscheidung der beiden dramatischen Grundformen – Tragödie und Komödie – bleibt Gottsched ganz der bekannten Ständeklausel verhaftet:

"Die Tragödie ist von der Komödie nur in der besondern Absicht unterschieden, daß sie anstatt des Gelächters die Verwunderung, das Schrecken und Mitleiden zu erwecken sucht. Daher pflegt sie sich lauter vornehmer Personen zu bedienen, die durch ihren Stand, Namen und Aufzug mehr in die Augen fallen und durch große Laster und traurige Unglücks-Fälle solche heftige Gemüts-Bewegungen erwecken können. [...] Die Personen, die zur Comödie gehören, sind ordentliche Bürger, oder doch Leute von mäßigem Stand: Nicht, als wenn die Großen dieser Welt etwa keine Torheiten zu begehen pflegten, die lächerlich wären; nein, weil es wider die Ehrerbiethung läuft, die man ihnen schuldig ist, sie als auslachenswürdig vorzustellen." (S. 99)

Auch die drei Einheiten (Handlung, Zeit, Ort), die wir aus der Poetik Aristoteles‘ kennen, werden von ihm als Grundprinzipien des Dramas festgeschrieben. Dies ist nur konsequent, wenn man bedenkt, daß das Drama einen moralischen Satz illustrieren soll. Also muß die Handlung übersichtlich bleiben und stets mit der gewünschten Aussageabsicht korrespondieren:

"Die ganze Fabel hat nur eine Haupt-Absicht: nämlich einen moralischen Satz; also muß sie auch nur eine Haupt-Handlung haben, um derentwegen alles übrige vorgehet. Die Neben-Handlungen aber, die zur Ausführung der Haupt-Handlung gehören, können gar wohl andre moralische Wahrheiten in sich schließen [...]. Alle Stücke sind also tadelhaft und verwerflich, die aus zwoen Handlungen bestehen, davon keine die vornehmste ist."

Die Einheit der Zeit wird von Gottsched mit der Einhaltung des Wahrscheinlichkeitsprinzips begründet:

"Die Einheit der Zeit ist das andre, so in der Tragödie unentbehrlich ist. Die Fabel eines Helden-Gedichtes kann viel Monate dauren [...]: das macht, sie wird nur gelesen: Aber die Fabel eines Schau-Spieles, die mit lebendigen Personen in etlichen Stunden lebendig vorgestellet wird, kann nur einen Umlauf der Sonnen, wie Aristoteles spricht, das ist einen Tag dauren. [...] Die besten Fabeln sind also diejenigen, die nicht mehr Zeit nötig gehabt, wirklich zu geschehen, als sie zur Vorstellung brauchen; das ist etwa drei oder vier Stunden: Und so sind die meisten griechischen Tragödien. Kommt es hoch, so bedörfen sie sechs, acht oder zum höchsten zehn Stunden zu ihrem ganzen Verlauf: Und höher muß es ein Poet nicht treiben, wenn er nicht wider die Wahrscheinlichkeit handeln will."

Auch die Einheit des Ortes begründet Gottsched mit dem obersten Prinzip der Dichtung: Das Werk muß wahrscheinlich sein.

"Zum dritten gehört zur Tragödie die Einigkeit des Ortes. Die Zuschauer bleiben auf einer Stelle sitzen, folglich müssen auch die spielenden Personen alle auf einem Platze bleiben, den jene übersehen können, ohne ihren Ort zu ändern [...]. Es ist also in einer regelmäßigen Tragödie nicht erlaubt, den Schau-Platz zu ändern. Wo man ist, da muß man bleiben; und daher auch nicht in der ersten Handlung im Walde, in der andern in der Stadt, in der dritten im Kriege und in der vierten in einem Garten oder gar auf der See sein. Das sind lauter Fehler wider die Wahrscheinlichkeit: Eine Fabel aber, die nicht wahrscheinlich ist, taugt nichts: weil dieses ihre vornehmste Eigenschaft ist." (S. 163-167)

©rein

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