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Naturalismus

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Der Naturalismus ist eine wesentlich gesamteuropäische Literaturbewegung, die sich in ihrer deutschen Variante als Reaktion auf die Romane und die Literaturtheorie Émile Zolas entfaltete, dabei aber die Schwerpunkte der Theorie und der literarischen Produktion anders gewichtete. Das gemeinsame Erbe bestand aus der Verwissenschaftlichung der Literatur (einerseits durch sozialwissenschaftliche Erkenntnisse, andererseits durch die darwinistische Entwicklungslehre). Die Gesellschaft insgesamt wurde positivistisch und materiell betrachtet; zur Erklärung gesellschaftlicher Phänomene wurden besonders die Theorien der Vererbung und der sozialen Determinierung herangezogen. So verstand sich auch die Kunst als soziales Experiment, was eine Intensivierung des in der deutschen Tradition ohnehin unterentwickelten Realismus bedeutete. Eine Erneuerung des Dramas speiste sich aus der Aufnahme kleinbürgerlich-großstädtischer und proletarischer Milieus (auch in Bezug auf die Sprache) einerseits, aus der Aktualisierung der Stoffe andererseits in enger Anlehnung an die sozialkritischen Dramen des Norwegers Henrik Ibsen. Die daraus resultierende Nähe zur Sozialdemokratie tritt in der deutschen Theorie stärker als in den Dramen hervor, die über eine rührselige Mitleidsstimmung kaum hinauskommen.

Der deutsche Naturalismus erlebte 1890 mit der Berliner Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang einen gewissen Publikumserfolg, der sich mit Hauptmanns Die Weber (1892) noch steigerte und in einem Theaterskandal eskalierte. Zum programmatischen Drama des Naturalismus wurde Die Familie Selicke von Arno Holz und Johannes Schlaf. Im Roman erreichte Max Kretzer (der 'Zola Berlins') freilich nur geringe Resonanz - interessante Formexperimente bieten die beiden Novellen Bahnwärter Thiel (Hauptmann, 1888) und Papa Hamlet (Holz und Schlaf 1889) - , aber die lyrischen Formexperimente von Arno Holz blieben Spezialistensache. Die Leistungen der naturalistischen Literatur-Kritik (z.B. Heinrich und Julius Hart, Kritische Waffengänge, 1882) prägten längerfristig den deutschen Literaturbetrieb.

Der Naturalismus als Bewegung verebbte einerseits schnell. Bis 1893 war Hauptmann bereits als Vertreter der Neuromantik hervorgetreten (Hanneles Himmelfahrt); in der Theorie hatte Hermann Bahr mit seiner Überwindung des Naturalismus bahnbrechend den Impressionismus eingeleitet; in der Lyrik hatte sich der Symbolismus etabliert (Stefan George, Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal). Zola wurde in Frankreich durch seine führende Rolle in der Dreyfus-Affäre zum Modell des engagierten Intellektuellen - seine literarische Leistung wurde für die weitgehend unpolitischen deutschen Naturalisten durch das politische Element verdrängt. So war es eher die Nähe des Naturalismus zur stockkonservativen, ja proto-rassistischen 'Heimatkunstbewegung', die die weiteren Entwicklungen des Romans bestimmte. Daß man Thomas Manns Buddenbrooks (1901) als den einzigen naturalistischen deutschen Roman bezeichnet hat, ist in Kenntnis seiner weiteren Entwicklung zunächst überraschend, bei genauerer Überlegung (und einem Blick auf die zeittypischen Themen und Motive) aber doch plausibel. Den größten Erfolg hatte Wilhelm Bölsche mit seiner populärwissenschaftlichen Abhandlung Liebesleben in der Natur (1898), die in Richtung Naturreligion abzudriften drohte. Trotz dieser widersprüchlichen teils fortschrittlichen, teils reaktionären Ansätze ist dem Naturalismus eine Modernisierung und Internationalisierung der deutschen Literatur zu verdanken, ohne die etwa die späteren Leistungen der Brüder Mann wie auch anderer Erzähler des 20. Jahrhunderts undenkbar wären.

©HR

Sekundärliteratur

  • C. Bürger / P. Bürger / J. Schulze-Sasse (Hg.): Naturalismus / Ästhetizismus, Frankfurt / M.1979.
  • R. Hamann / J. Hermand: Der Naturalismus, München 1972. (Epochen deutscher Kultur, Bd. 2).
  • E. Ruprecht: Literarische Manifeste des Naturalismus 1880-1892, Stuttgart 1962.