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* Juni/Juli 1313, Certaldo oder Florenz
† 21.12.1375, Certaldo

italienischer Erzähler und Humanist

Das Leben Boccaccios verlief nicht so spektakulär, glamourös und voll amouröser Abenteuer, wie der Leser des berühmten Decameron es sich vorstellen mag. Im Gegenteil. In einem Brief hat er sich selbst als "Stiefkind des Glücks" bezeichnet. Der Ruhm eines Dante oder Petrarca blieb ihm zu Lebzeiten versagt. Beständig musste er um seinen Lebensunterhalt kämpfen. Nicht zuletzt machte ihm der "Makel" zu schaffen, als uneheliches Kind geboren zu sein.

Boccaccios Vater war Kaufmann in Florenz, die Mutter könnte zur Dienerschaft gehört haben. Im Jahr 1327 ging der Vater im Auftrag des Bankhauses Bardi nach Neapel. Boccaccio lernte dort zunächst die Grundlagen des Bank- und Handelswesens kennen. Anschließend studierte er widerwillig Jura. Was ihn eigentlich interessierte, war das literarische Leben. Die reich ausgestattete Bibliothek König Roberts von Anjou, eines großen Förderers des Humanismus, wurde sein entscheidendes Bildungserlebnis. Nach dem Bankrott des Bankhauses kehrte Boccaccio mit seinem Vater 1340/41 aus dem monarchisch geprägten Neapel ins frühbürgerliche Florenz zurück. Für die Florentiner Regierung hat er verschiedene kleine Ämter bekleidet. Nach 1360 zog sich Boccaccio immer wieder in die Abgeschiedenheit von Certaldo bei Florenz zurück. Erst 1373, zwei Jahre vor seinem Tod, wurde ihm seitens seiner Heimatstadt Anerkennung als Dichter zuteil. In mehreren Vorträgen durfte er die Göttliche Komödie seines renommierten Kollegen Dante auslegen.

Boccaccios Studien und seine literarische Produktion galten sowohl dem Lateinischen als auch dem "volgare", der italienischen Volkssprache. Erste Dichtungen in Latein, wie die an Ovid geschulte Elegie der Constanze (Elegia di Costanza), entstanden bereits in den dreißiger Jahren. Sein Hauptwerk bildet aber zweifellos das im toskanischen Italienisch abgefasste Decameron (1348-1353). Der Titel leitet sich aus dem griechischen "deka" (zehn) und "hemerei" (Tage) ab. Erzählt wird von sieben jungen Frauen und drei jungen Männern, die sich 1348 wegen einer Pestepidemie auf einen Landsitz bei Florenz zurückziehen. Dort verbringen sie vierzehn Tage. Zehn davon (Freitag und Samstag sind der religiösen Besinnung vorbehalten) vergehen mit Musik, Spiel, Tanz und vor allem mit dem Reihumerzählen von Geschichten. Jeder Tag steht unter einem besonderen Thema - etwa List, Edelmut, glückliche oder unglückliche Liebe. Eine Ballade beschließt jeden Reigen.

Nach dem Vorbild des Novellino, einer Novellensammlung aus dem 12. Jahrhundert, aber auch in Anlehnung an Dantes Göttliche Komödie mit ihren 100 Gesängen, finden sich also 100 Novellen im Decameron. Ihre Stoffe stammen aus dem Orient oder der Antike, meist aber aus der französischen, provenzalischen und italienischen Erzähltradition. Was in inhaltlicher Hinsicht Boccaccios Neuheit ausmacht, ist die gleichzeitige Präsenz von Tragik und Komik, von niederer und gehobener Handlung, von volkstümlichem, aristokratischem und bürgerlichem Personal. Die Vermischung der sonst getrennten Sphären lässt eine widerspruchsreiche Spannung zwischen Tugend und Laster, Gut und Böse entstehen. Trotz vieler mittelalterlicher Elemente ist die Darstellung von überbordender Lebensvielfalt und damit Ausdruck der neuen Welterfahrung, die das 14. Jahrhundert als Renaissance mit sich bringt.

Auch formal hat Boccaccio Neuland betreten. Sein Novellenzyklus mit fester Rahmenhandlung wurde stilbildend in ganz Europa. Für viele spätere Autoren wie Geoffrey Chaucer in England, Miguel de Cervantes in Spanien, Marguerite de Navarre in Frankreich oder selbst für Lessing und Goethe in Deutschland ist er zum Bezugspunkt geworden. Allerdings sind Boccaccios Novellen noch nicht streng strukturiert. Ihrem Aufbau und ihrer Funktion nach sind sie oft Märchen, oder moralische Exempel. Das sprachliche Register reicht von einfachen bis zu hoch komplexen Konstruktionen. Vor allem in letzteren lässt sich die Absicht erkennen, das Italienische als eine dem Lateinischen ebenbürtige Literatursprache zu etablieren. Mit Boccaccio, hat der Romanist Erich Auerbach geschrieben, entsteht aus der rhetorischen Überlieferung, die "in der mittelalterlichen Praxis zu einem fast gespenstisch greisenhaften Mechanismus erstarrt" war, "die erste literarische Prosa des nachantiken Europa".

In Boccaccios narrativem Werk - von der Jagd der Diana (Caccia di Diana, ca. 1334) bis zu Corbaccio oder Das Liebeslabyrinth (Il Corbaccio o labirinto d´amore, ca. 1365) - bricht sich ein neues Verständnis des Erzählens Bahn. Es soll nicht ausschließlich der Unterhaltung dienen, sondern auch der ethischen Bildung. Erzählen wird bei Boccaccio zu einer Form der menschlichen Selbsterfahrung, die nicht mehr nur auf Transzendentales zielt, sondern auf das sinnliche Leben der irdischen Existenz.

Nachdem Boccaccio 1350 die persönliche Bekanntschaft Petrarcas gemacht hatte, wandte er sich wieder verstärkt humanistischen Aktivitäten zu. Dazu zählen die Sammlung von Codices antiker Autoren oder die Anregung einer wichtigen Homer-Übersetzung. Seine eigenen lateinischen Schriften über die Biographien berühmter Männer und Frauen sowie das enzyklopädische Verzeichnis aller Gestalten der griechisch-römischen Mythologie (Genealogia deorum gentilium, 1350-1375) dienen vor allem der Bewahrung und Vermittlung von antikem Wissen.

©SR

Wichtige Schriften

  • Troilus und Cressida (Filostrato, 1335-38)
  • Filoloco (1336-39)
  • Theseide (Teseida delle nozze d´Emilia, 1340/41)
  • Fiammetta (Elegia di Madonna Fiammetta, 1343/44)
  • Über berühmte Männer (De casibus virorum illustrium, 1356-60)

Sekundärliteratur

  • K. Flasch: Vernunft und Vergnügen. Liebesgeschichten aus dem Decameron, München 2002.
  • H.-J. Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1983.