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Da die sprachliche Darstellung eines Geschehens nicht an eine strikte Chronologie gebunden ist, sondern - wie die Gedanken - in Vergangenheit oder Zukunft schweifen kann, hat sich Eberhard Lämmert in seinem Buch Bauformen des Erzählens (1955) an zentraler Stelle auch mit den möglichen Umstellungen von Partien der erzählten Zeit im Laufe des Erzählens beschäftigt. Die Reihenfolge der Ereignisse - so wie sie auf der Ebene der 'histoire' stattfinden - kann in der sprachlichen Darstellung - auf der Ebene des 'discours' - also durchaus verändert werden.

Als Rückwendung bezeichnet Lämmert prinzipiell die Unterbrechung der Erzählung, um Geschehnisse nachzutragen, die sich schon zu einem früheren Zeitpunkt ereignet haben. Ohne diese Umstellungstechnik kommt kaum eine Erzählung aus. Ein typischer Anwendungsfall besteht darin, Informationen über die Biographie einer Handlungsfigur an passender Stelle nachzureichen. Innerhalb dieser Erzählbewegung in Richtung der Vergangenheit differenziert Lämmert jedoch noch weiter:

Die aufbauende Rückwendung bleibt auf eine jeweils zweite Erzählphase beschränkt. Nach einem Beginn 'medias in res' (beispielsweise dem Treffen des Privatdetektivs Sam Spade mit einer neuen Klientin in seinem Büro) wird das am Anfang Ausgesparte nachgeholt (z.B. könnte aus dem Haushalt der jungen Dame ein wertvoller Gegenstand oder gar eine Person verschwunden sein, was sie dazu veranlaßt hat, den Detektiv aufzusuchen).

Analog dazu spricht Lämmert von einer auflösenden Rückwendung am Ende des Textes. Hier werden die Lücken im bisher Erzählten aufgefüllt und Informationen nachgeliefert, die bis zu dieser Stelle zurückgehalten worden waren. So scharen sich die verdächtigen Personen am Ende eines Romans von Agatha Christie regelmäßig um den Detektiv Hercule Poirot, der die Ereignisse resümiert und diejenigen - bisher verschwiegenen - Informationen nachträgt, die ihn auf die Spur des Mörders geführt haben.

Eine dritte Form bildet die eingeschobene Rückwendung (die Lämmert noch einmal in Rückschritt, Rückgriff und Rückblick differenziert). Sie kann an einer beliebigen Stelle im Text vorangegangene Ereignisse einblenden, sei es, um Nebenhandlungen weiter auszuführen, um nur punktuell auf ein vergangenes Ereignis zu verweisen oder um mit einem Blick auf die Vergangenheit das gegenwärtige Geschehen zu vertiefen.

Weniger häufig tritt eine Technik auf, die den gleichen Vorgang in der zeitlichen Gegenrichtung vollzieht. Wenn ein zukünftiges Ereignis der Geschichte vorweggenommen wird, obwohl der Gang der Erzählung noch gar nicht an diesem Punkt angelangt ist, spricht Lämmert von Vorausdeutungen. Verallgemeinernd kann man sagen, daß seine Kategorie der zukunftsungewissen Vorausdeutung dem Horizont der Figuren zugeordnet ist (bzw. einem Erzähler, der nicht mehr weiß als die Figuren). Die Unsicherheit äußert sich als subjektive Hoffnung, Furcht, Glauben usw. Die zukunftsgewisse Vorausdeutung dagegen verlangt einen Erzähler, der zumindest mehr weiß als die Figuren. So kann er sichere Angaben über das zukünftige Geschehen machen. Lämmert differenziert hier noch einmal.

Dabei bedeutet einführende Vorausdeutung, daß am Textanfang eine Figur, ein Thema oder ein Geschehen angekündigt wird (wie z.B. in dem barocken Titel eines spanischen Schelmenromans von Mateo Alemán: "Der große spanische Vagabund Guzmán de Alfarache, wie er aus Sevilla auszog, sein Glück zu suchen, in Madrid die Schule der Bettler und in Toledo die Schule der Liebe durchmachte, in Rom und Florenz großen Herren diente und da ihm das Glück zu lächeln schien, endlich auf die Galeere geriet").

Die abschließende Vorausdeutung weist meist in eine Zukunft, die nicht mehr erzählt wird. Typisch ist hierfür die Märchenformel: "und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute".

Die eingeschobene Vorausdeutung schließlich kann den Verlauf der gesamten Erzählung oder auch nur einer Erzählphase ankündigen. Zum Beispiel: "Das sollte er noch vor Einbruch der Dunkelheit bereuen." (vgl. Zeitstruktur bei Genette)

© SR

Quelle

Sekundärliteratur