Startseite Index

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

* 21.11.1768, Breslau
† 12.02.1834, Berlin

Protestantischer Theologe, Philosoph und Pädagoge

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher war als erster Theoretiker bestrebt, eine allgemeine Hermeneutik zu entwickeln, die er definierte als "die Kunst, die Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen" (S. 75). Er beschränkt sich dabei, der protestantischen Aufklärungshermeneutik folgend, auf einen einzigen Schriftsinn, den Wort- oder Literalsinn (sensus litteralis) des Textes und verwirft damit die Lehre des mehrfachen Schriftsinns und die ihr folgende Auslegepraxis. Weiterhin gewinnt bei ihm der Autor selbst und dessen Intention an Bedeutung für das Verständnis des Textes. Dies führt ihn dahin, innerhalb der Hermeneutik zwei Aufgabengebiete zu unterscheiden, die bei einer Interpretation Berücksichtigung finden sollten: einerseits die grammatische, andererseits die psychologische Interpretation.

Die grammatische Interpretation deutet jede sprachliche Äußerung im Rahmen des vorgegebenen Sprachsystems. Insofern ist für sie jede sprachliche Äußerung etwas Überindividuelles; zugleich aber wird durch den jeweils individuellen Sprachgebrauch (etwa durch neuartige Wortverbindungen, sprachliche Bilder usw.) auch das gegebene sprachliche System innovativ verändert. Diese Weiterentwicklung sieht Schleiermacher in der Poesie besonders stark ausgeprägt: sie ist eine Erweiterung und neue Schöpfung der Sprache.

Die psychologische Interpretation soll erschließen, was der Autor aussagen möchte, denn sie faßt seinen Text als Lebensmoment des Redenden auf. Der Interpret muß dabei die Genese des Textes nachkonstruieren. Er muß die Bedingungen kennen, unter denen der Autor schrieb und die Gründe, die sein Schreiben veranlaßten, er muß sich in den Autor 'hineinversetzen' können. Auch wird er den einzelnen Text besser verstehen können, wenn er das gesamte Werk eines Autors kennt, etwa so, wie sich einem der Sinn eines Wortes erst durch den Satzzusammenhang, in den es jeweils gehört, wirklich erschließt.

Schleiermacher fordert schließlich, der Interpret müsse "die Rede zuerst ebensogut und dann besser verstehen als ihr Urheber" (S. 94); er ist davon überzeugt, daß die angemessene Interpretation eines Textes nur durch einen Interpreten geleistet werden könne, den eine gewisse Seelenverwandtschaft mit dem Autor und die Fähigkeit zur Divination (Ahnung) auszeichne.

Schleiermachers Bedeutung für die neuere Hermeneutik liegt nicht allein in der Überwindung der Spezialhermeneutiken und der Konzeption einer allgemeinen Verstehenstheorie, sondern darin, daß er sie in einer allgemeinen Theorie der Sprache als System und als individuelle Hervorbringung fundiert. Mit dieser Wendung zu den sprachlichen Bedingungen von Textproduktion und Textverstehen, die auch ein neues Verständnis der spezifischen Leistung des poetischen Sprechens einschließt, kann Schleiermacher sogar als Vorläufer heutiger Sprach- und Literaturtheorien angesehen werden.

Friedrich Schleiermacher hat eine ausgereifte Darstellung seiner hermeneutischen Theorie niemals drucken lassen. 1838 veröffentlichte jedoch sein Schüler Friedrich Lücke, dessen handschriftlichen Nachlaß und Vorlesungsmitschriften unter dem Titel Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament.

© DS und JV

Quelle

  • Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers hg. v. Manfred Frank, Frankfurt/M. 1977.

Wichtige Schriften

Sekundärliteratur

  • H. Birus: Zwischen den Zeiten. Friedrich Schleiermacher als Klassiker der neuzeitlichen Hermeneutik, in: H.B. (Hg.): Hermeneutische Positionen: Schleiermacher - Dilthey- Heidegger - Gadamer, Göttingen 1982.
  • M. Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/M. 1977.
  • P. Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. Frankfurt/M. 1975, Kap.8.