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Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/36)

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Der unter schwierigen Bedingungen 1935/36 im Pariser Exil entstandene Aufsatz des Philosophen und Kulturkritikers Walter Benjamin kann als zentraler Text der modernen Kultur- und Medientheorie gelten. Angesichts der historischen Situation, die Benjamin, aus materialistischer Sicht, als einen katastrophalen Rückfall hinter die Möglichkeiten eines revolutionären sozialen Wandels deutet, richtet er sich am Beispiel des faschistischen Führerkults gegen die "Ästhetisierung der Politik"(S. 168). Diese Ästhetisierung basiere auf einer vormodernen Rezeptionshaltung des Publikums, während das "Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit" nicht allein neue Rezeptionsweisen, sondern auch eine neue Kunst (Film) erzeugt sowie den "Verfall der Aura" (S. 142) bewirkt habe. Aura - die "einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag" (142) - der Begriff ist verbunden mit dem Kultwert eines Kunstwerks, seiner Einmaligkeit und seiner Dauer. Diese Unnahbarkeit spiegelt sich in seiner ursprünglichen Aufgabe im Ritual, zeigt sich aber noch beim zeitgenössischen Kunstsammler.

Die massenhafte technische Reproduktion, die mit der Erfindung der Fotografie 1839 begann und von Benjamin vor allem anhand der neuen Filmkunst diskutiert wird, beendet die daraus erwachsenen Vorstellungen von "Schöpfertum und Genialität" (S. 137), von Originalität und Ursprung: "die Frage nach dem echten Abzug hat keinen Sinn" (S. 145) mehr. Die Aufforderung an den Betrachter, sich kontemplativ in ein Gemälde zu versenken, tritt in umgekehrter Form in fotografischen Bildern wieder auf: "Ihnen ist die freischwebende Kontemplation nicht angemessen. Sie beunruhigen den Betrachter; er fühlt: zu ihnen muß er einen bestimmten Weg suchen. Wegweiser beginnen ihm gleichzeitig die illustrierten Zeitschriften aufzustellen. Richtige oder falsche - gleichviel." (S. 148) Extremer ist die "Chockwirkung" noch im Film, dessen Bilder wie ein "Geschoß" dem Betrachter entgegentreten, im nächsten Augenblick aber dem Massenpublikum, schon wieder entrissen werden und "wie jede Chockwirkung [nur] durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen" (S. 165) werden können.

Benjamin behauptet eine neuartige, von "Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit" (S. 143) geprägte Wahrnehmungsweise, "deren ‚Sinn für das Gleichartige in der Welt' so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt." (S. 143) Überkommene Vorstellungen von Tradition sind damit grundsätzlich in Frage gestellt. Vorformen der mit der Kunstform Film verbundenen Wirkung finden sich in Werken der künstlerischen Avantgarde, beispielsweise im Dadaismus: Dort wurde mit allen (handwerklichen!) Mitteln versucht, dem Kunstwerk den Charakter eines Originals zu nehmen und eine physisch-moralische "Chockwirkung" beim Publikum zu erzeugen. Auch die Aura des Schauspielers - seine unmittelbare Präsenz im Hier und Jetzt - geht durch den Filter der Apparatur im Film verloren: "Das Publikum fühlt sich in den Darsteller nur ein, indem es sich in den Apparat einfühlt." (S. 151) Positiv bewertet Benjamin die Verquickung von Kunst und Wissenschaft im Film, der aufgrund seiner objektiven Registrierung aller Details der sozialen Analyse der Wirklichkeit genauere Dienste leisten könne als Malerei oder Theater. Bizarr erscheint in diesem Zusammenhang, daß die Filmindustrie mit allen Mitteln versucht, gegen die von ihrem Medium geprägte Wahrnehmungsweise auratische Wirkungen auszulösen. Der von ihnen gepflegte Starkult unterlaufe, so Benjamin, das revolutionäre Potential des Films.

© pflug

Quelle

  • Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften I, Frankfurt/M. 1977, S. 136-169.

Sekundärliteratur

  • N. Bolz / W. van Reijen: Walter Benjamin, Frankfurt/M. 1991.
  • V. Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen 1990.
  • M. Opitz / E. Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Frankfurt/M. 2000.