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Friedrich Schlegel: Progressive Universalpoesie (1798)

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Friedrich Schlegel gründet 1797 zusammen mit seinem Bruder August Wilhelm Schlegel die Zeitschrift Athenäum. Obwohl sie nur drei Jahre erscheint, gewinnt sie große Bedeutung. Sie ist das Organ der Frühromantiker (Schleiermacher, Novalis, Caroline Schlegel). Vor allem in den Fragmenten, die noch im ersten Band des Athenäums ohne Nennung des Verfassers als Gemeinschaftswerk Friedrich und August Wilhelm Schlegels sowie Novalis‘ und Schleiermachers erscheinen, werden grundlegende Vorstellungen zu einer Poetik der Romantik formuliert. Besondere Bedeutung für die Entwicklung poetologischer Vorstellungen erlangt das 116. Athenäums-Fragment, in dem Friedrich Schlegel die Programmatik der romantischen Poesie formuliert. Diese sogenannte Progressive Universalpoesie fordert die Vermischung aller Gattungen. Im romantischen Roman schlägt sich dieses Diktum in einem steten Wechsel der Formen nieder: Erzählende Passagen werden von dramatischen, dialogischen Sequenzen abgelöst; Gedichte, Lieder oder Briefe durchbrechen den Erzählfluß. Aber auch die Erzählung an sich ist nicht "aus einem Guß". Es gibt immer wieder kleinere Subtexte (Märchen, Exkurse, Erinnerungen etc.), die die Haupterzählung unterbrechen. So besteht der Roman Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores [1810] von Achim von Arnim aus fast 100 eigenständigen Erzählelementen. Dies ist ein Gegenschlag gegen alle schematisierenden Poetiken, die den Dichter in ein enges Regelkorsett zwängen.

Schlegels Poetik steht jedoch nicht nur für die Vermischung der Gattungen, sondern auch für den Grundsatz, daß Poesie nicht nur – im engen Sinne – alle poetischen Elementen integrieren soll, sondern auch Philosophie, Rhetorik und Kritik:

"Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang."

Indem die Universalpoesie sich möglichst viele Bereiche des Lebens aneignet, wird das Leben selbst zur Dichtung; ein Leben, dessen Totalität, als Bild des Zeitalters, sich wiederum nur in der Poesie wiederfindet. Nur in ihr kann der Mensch alles überblicken.

"Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisieren, sei ihr Eins und Alles; und doch gibt es noch keine Form, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefähr sich selbst dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. [...] Die romantische Poesie ist unter den Künsten, was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist. Andre Dichtarten sind fertig und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art und gleichsam die Dichtkunst selber ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein." (S. 38f.) Die absolute Freiheit des Dichters meint also nicht nur Freiheit von tradierten poetologischen Konventionen – für deren Außerkraftsetzung die Romantik seit jeher bekannt ist -, sondern Freiheit von jeder Poetik, auch der romantischen. Die poetische Unfreiheit besteht in dem Zwang zur Freiheit.

Die historische Bedeutung dieser neuen Poetik liegt also in der radikalen Abkehr von jeglicher Regelpoetik. Der Dichter wird zu einem in Freiheit schaffenden Genie. Nur er selber ist für die Gestalt seines Werkes verantwortlich. Damit einher geht die Aufwertung des Romans als literarische Form, denn in seiner flexiblen Hülle ist nicht nur die Vermischung der Gattungen möglich. Auch die Abkehr von der Idealvorstellung, daß im Epos (Aristoteles, Hegel) oder im Roman gesellschaftliche Totalität abgebildet werden kann und muß, beginnt Schlegel mit seiner progressiven Universalpoesie vorzubereiten, ohne es zu wollen. Zwar glaubt er noch, in der Unabschließbarkeit des romantischen Romans Unendlichkeit auszudrücken und damit auf die Ganzheit der Erscheinungen der Menschen und der Gesellschaft zu verweisen, aber dieser fragmentarische Charakter des Romans bereitet schon moderne und postmoderne Formen literarischen Schaffens vor, die ja nicht nur durch ihre stilistische Freiheit, sondern oft auch durch die radikale Begrenzung ihrer Perspektive gekennzeichnet sind. Wir erleben die Wirklichkeit dort nur noch als Ausschnitt, begrenzt auf die Sicht eines orientierungslosen Subjekts, für das sich die Welt längst auf ungeordnete Eindrücke reduziert hat. Hier verweist das Fragmentarische nicht mehr auf die Welt, sondern nur auf das Individuum.

© rein

Quelle

  • Friedrich Schlegel: Kritische Schriften, hg. v. Wolfdietrich Rasch, 2. Aufl., München 1964.