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Robert Gernhardt

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*13.12.1937, Reval (Estland)
† 30. 06.2006, Frankfurt am Main

Schriftsteller, Karikaturist, Maler, Kritiker

(Pseudonyme Lützel Jeman, Alfred Karch)

Mit Robert Gernhardt (und seinem von ihm mitbegründeten Kreis der "Neuen Frankfurter Schule" um Eckhard Henscheid, Chlodwig Poth, Hans Traxler, F. K. Waechter oder F. W. Bernstein) betritt ein neuer Typus des Schriftstellers die literarische Öffentlichkeit: Er hebt die Grenzen auf zum Feuilleton, zur Satire und zur Karikatur. Der Dichter als Popstar betritt die Bühne und erobert Leserkreise, die bislang wenig Neigung für Lyrik und Lesungen zeigten. Der Paradigmenwechsel ist verbunden mit der Ablösung eines Literaturbegriffs, der zwischen "großer Literatur", "Unterhaltungsliteratur" und "Unliterarischem" scheidet.

Gernhardts schriftstellerische und zeichnerische Karriere begann als Mitarbeiter an dem 1962 gegründeten Satiremagazin "Pardon" (unter dem Pseudonym Lützel Jeman - schlag nach im "Lexer"!); 1979 war er Mitbegründer von "Titanic", dem "endgültigen Satiremagazin" aus Frankfurt. In "Pardon", vor allem in der doppelseitigen Rubrik "Welt im Spiegel", entwickelte sich seine genuine Meisterschaft der Verbindung von Bild und Text; zugleich schien für die ersten Jahrzehnte "die hilfreichste Schublade für mein Dichten und Trachten" die "mit K wie Komik" beschriftete Schublade zu sein (ROBERTGERNHARDT im Nachwort zum Reclam-Band Reim und Zeit, S. 109); das Komische "durchsäuert" die Literatur, fügt er an anderem Ort hinzu (1996, S. 131). Inzwischen ist der Autor zu einem gefeierten, beinahe einhellig gelobten "Klassiker" geworden, der im letzten Jahrzehnt eine Reihe von Sammlungen seiner Arbeiten veröffentlicht hat, in denen er die Bilanz einer Entwicklung zieht, die das Komische transformiert. Die Lieder vom Kragenbär und Schnabeltier (überhaupt spielt die Fauna eine kaum zu überschätzende Rolle im Werk GERNHARDTs) sind eingegangen in ein Liedgut, das auch noch auf Toilettenwänden festgehalten wird ("Paulus schrieb den Irokesen: Euch schreib ich nichts, lernt erst mal lesen"); Figuren wie Arnold Hau und Schnuffi gehören ebenso zur deutschen Kultur nach 1960 wie einige Titel seiner Werken: "Die Blusen des Böhmen", "Besternte Ernte", "Wörtersee", "Kippfigur" oder "Toscana-Therapie".

Bemerkenswert sind die thematische und formale Vielfalt im Werk Gernhardts "ROBERTGERNHARDT ist vielseitig" (Arnet, S. 57), heißt das wiederkehrende Stichwort in der noch wenig umfangreichen Sekundärliteratur, die nicht selten versucht, in einer Abwehrreaktion gegen die Vielseitigkeit des Werkes, dieses einzufangen in Rubriken. Im Sinne einer "Welthaltigkeit" und einer Wiederkehr des Körpers wird nicht nur das Komische und Lächerliche sondern auch das Banale und Alltägliche zum Thema ernannt: die Herzoperation, der Fußball, Sprachschwierigkeiten im ICE, Diät-Leiden, die Begegnung mit dem Bettler in der Fußgängerzone oder die ungeliebten 'Potenzstörungen'. "Kein Anlass [ist] zu trivial, kein Motiv zu abseitig, kein Bild zu hässlich", schreibt Lutz Hagestedt (2001, S. 14) zu einem Werk, das die Nähe zur Gelegenheitsdichtung nicht verleugnet.

Das reiche Formenrepertoire umfasst verschiedene "Textsorten" und Genres: Anekdoten, Bildgeschichten, Cartoons, Interpretationen seiner eigenen Texte oder Foto-Gedichte (zuweilen nennt sich Gernhardt "Bilddichter"). Bei seinen Gedichten bedient er sich neben der vorherrschenden traditionellen Liedstrophe auch Formen wie dem Blues, dem Couplet, der Litanei, der Ballade, dem Dialoggedicht, der Terzine und natürlich dem Sonett (darunter jenes berühmte, das in die Lehrbücher Eingang gefunden hat: "sonette find ich so was von beschissen"). Im Nachwort zu dem Reclam-Bändchen "Hier spricht der Zeichner" liefert Gernhardt die Gattungsabgrenzungen fürs eigene Werk (und überhaupt gibt es eine Vielzahl von Selbstkommentierungen, in denen die Entstehungsbedingungen des Werks selbst thematisiert werden).

In einem SPIEGEL-Gespräch entwickelt er seine Poetologie der Gattungen: "Die Genres bedienen ja nicht nur geistige Erwartungen, sie befriedigen geradezu körperliche Bedürfnisse. Es ist sicher kein Zufall, dass die fünf Genres unseres Kulturkreises mit den fünf Entleerungsmöglichkeiten des Körpers korrespondieren [...]. Beim Melodram fließen Tränen. In der Komödie bepisst man sich vor Lachen. Der Krimi erzeugt Angstschweiß. Der Horror provoziert Erbrechen. Und der Porno zielt auf die bekannten Absonderungen" (SPIEGEL NR. 30/1994, S. 161).

Das ernst Gemeinte und das Spielerisch-Selbstironische sind inzwischen schwer zu scheiden; Sprachclownerie hat sich mit Sprachreflexion verwoben. Hinter dem Antipathetischen und dem virtuosen Spiel mit literarischen Traditionen und Rezeptionsformen steht ein Autor, der in seinem Werk vielerlei Ambivalenzen Platz gibt: dem zwischen Kunstanspruch und Dilettantismus; zwischen "Niederkunst und Hochkomik", zwischen Fein- und Grobsinnigem.

Er beherrscht das Spiel mit Niveau-Barrieren, die Verbindung geistreichen Persiflagen, plumpen Kalauern und pubertären Zoten. GERNHARDT ist ein ausgewiesener Kenner nicht nur der lyrischen Tradition; von besonderer Bedeutung sind ihm seine Lieblinge Lichtenberg, Morgenstern und Jandl; und natürlich Heine, Brecht und Goethe (denen er ein "Klappaltar" errichtet hat [Zürich 1998]).

© MiR

Quellen

  • D. Arnet: Der Anachronismus anarchischer Komik. Reime im Werk von Robert Gernhardt. Berlin 1996.
  • Robert Gernhardt: Hier spricht der Zeichner, Stuttgart 1996.
  • Lutz Hagestedt: Robert Gernhardt, in: Kritisches Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (ergänzte Fassung 2001).

Wichtige Schriften

  • Welt im Spiegel (1979)
  • Letzte Ölung. Ausgesuchte Satiren (1984)
  • Kippfigur (1986)
  • Reim und Zeit. Gedichte (1996)
  • Hier spricht der Zeichner (1996)

Sekundärliteratur

  • D. Arnet: Der Anachronismus anarchischer Komik. Reime im Werk von Robert Gernhardt. Berlin 1996.
  • Lutz Hagestedt: Robert Gernhardt [Autorenartikel]. In: Kritisches Lexikon der deutschsprachigen
  • Gegenwartsliteratur (ergänzte Fassung 2001).
  • Text + Kritik Heft 136, Oktober 1997