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Bei einem hermeneutischen Symposium sitzt neben dem Theologen und dem Juristen der Literaturwissenschaftler heute als armer Verwandter am Tisch. Sein Platz ist zwar angestammt und die Reihe seiner Ahnen weder die kürzeste noch die schlechteste. Beitragen aber kann er nicht viel. Keine der verschiedenen Schulen, welche die Neueren Philologien (und nur von diesen soll hier die Rede sein) seit ihrer Entstehung geprägt haben, war der Ausbildung einer spezifisch literarischen Hermeneutik förderlich. Die Positivisten beschäftigten sich nur mit Fakten, und da sie auch ihre Deutung der Fakten für etwas Gegebenes hielten, blieb die Frage nach der Entstehung dieser Deutung und der Erkenntnis der Fakten ungestellt. Der Geistesgeschichte ging es nur um Geistiges: was auszulegen gewesen wäre, galt als bloße Hülle des Eigentlichen. Die verschiedenen Schulen der immanenten Interpretation bemühten sich um den Nachweis, daß das einzelne Sprachkunstwerk adäquat nur aus sich selber verstanden werden kann: die Frage, wie solches Verstehen entsteht, hätte die Emphase dieses Bestrebens nur gestört. Daß "Da-sein" Verstehen ist, ließ sich die von der Seinsphilosophie geprägte Literaturwissenschaft nicht zweimal sagen und folgerte: wenn Verstehen Da-sein ist, sind die Bedingungen der Möglichkeit von Verstehen Sache der Fundamentalontologie; eine Kritik der literarischen Vernunft wurde weniger als je zum Desiderat. Sieht man von einzelnen Versuchen ab, insbesondere auf dem Gebiet der Sprach- und Geschichtsphilosophie, so ist die Hermeneutik auf dem Gebiet der Philologie über den Stand des 19. Jahrhunderts kaum hinausgekommen, obgleich Verständnis sowohl von dem, was Literatur, als auch von dem, was historische Erkenntnis ist, in den letzten fünfzig Jahren so radikal sich gewandelt hat, daß das Studium etwa von Boeckhs eindrucksvoller "Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften" nicht so sehr lehrt, was der Titel verspricht, als vielmehr erkennen läßt, warum eine neue Methodenlehre der Philologie vonnöten ist.

Zweierlei dürfte dies verdeutlichen: die Einsicht in die sprachliche Bedingtheit von Literatur und die These von der Bedingtheit historischer Erkenntnis durch die Historizität des Erkennens. [...]

Aus der Konzeption der sprachlichen Bedingtheit von Literatur folgt, daß die Hermeneutik den Gegenstand des Verstehens nicht jenseits der Sprache ansetzen kann, wobei der Akt des Verstehens einer bloßen Dechiffrierung gleichkäme sondern in der Sprache selbst. Die Konzeption der historischen Erkenntnis als einer durch den historischen Standort des Erkennenden mitbedingten stellt die literarische Hermeneutik vor die Aufgabe, Kriterien zu gewinnen, welche sie davor bewahrt, aus der als Selbsttäuschung erkannten Objektivität historischer Einfühlung in die Willkür aktualisierender Subjektivität zu geraten. Dies dürften die beiden Kristallisationspunkte einer neuen literarischen Hermeneutik sein. (S. 404f.)

Quelle

  • Peter Szondi: Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik (1970), in: Jean Bollack und Helen Stierlin (Hg.): Peter Szondi. Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt/ M. 1975.