August Friedrich Christian Vilmar: Geschichte der deutschen Nationalliteratur (1845)

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Die Deutschen als ein besonderes, ein herausragendes Volk – auch in ihrer literarischen Produktion - , diese Konstruktion finden wir in der christlich-nationalen Literaturgeschichtsbetrachtung August Friedrich Christian Vilmars. In seiner Einleitung zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur wird deutlich, daß diese Einschätzung aus einem tiefverwurzelten Minderwertigkeitsgefühl resultiert. Vilmar schreibt:

"Wessen Selbstgefühl hätte es nicht verletzt, wenn uns, wie gar oft von Unkundigen geschehen, bei aller Anerkennung unserer Klopstock, Lessing, Schiller und Goethe, vorgehalten worden ist, daß wir doch nur durch die Voltaire, Corneille und Racine, durch die Shakespeare, die Tasso und Ariost das geworden seien, was wir wirklich sind, und daß wir, nachdem alle anderen Nationen längst ihr Blütenalter gefeiert, erst spät und gar langsam, als die allerletzten, gleichsam als träge Nachzügler, und nur angefeuert durch den Stachel der Treiber, auch uns auf die Höhe unseres literarischen Selbstbewußtseins erhoben hätten?" (S. 2)

Vilmar sieht die Deutschen hingegen als literarische Vorreiter, die längst, "nicht allein vor Tasso und Ariost, sondern auch vor Dante und Petrarca [ihren] Walther von der Vogelweide, [ihren] Wolfram von Eschenbach, [ihre] Gudrun und [ihr] Lied von der Nibelungen Not gehabt haben." (S. 2) Diese unvergleichliche Leistung stellt er auf eine Stufe mit der Ilias der Griechen und hat sich damit eines der beliebtesten Maßstäbe des 19. Jahrhunderts bedient. Die Antike dient Vilmar auch im weiteren Verlauf seiner Argumentation als Anschauungsmaterial, wenn er den Untergang der griechischen Kultur mit ihrer Unfähigkeit, sich mit dem Fremden auseinanderzusetzen, in Zusammenhang bringt. Im Gegensatz hierzu haben sich die Deutschen in einem steten Kampf mit dem Fremden befunden, den sie in einem positiven Sinne "gewinnen", indem sie sich das Fremde aneignen, um sich selber weiterzuentwickeln: "Berufen zum Träger des Evangeliums, hat das deutsche Volk niemals in einseitiger Abgeschlossenheit, hochmütiger Selbstbespiegelung und eigensinnigem Nationaldünkel sich gefallen können, vielmehr willig und offen sich hingegeben und jedem fremden Eindruckes sich bloßgestellt, willig das Fremde anerkannt und aufgenommen, zuweilen bis zum Selbstvergessen des eigenen Wertes; fähig, alle eigenen Ansprüche an das Objekt fahren zu lassen, und sich ganz in dasselbe zu versenken, ist das deutsche Volk durch diese erste und größte Dichterfähigkeit das eigentliche Dichtervolk unter den Nationen der Erde." (S. 3)

Diese Auseinandersetzung mit dem eindringenden Fremden hat dann laut Vilmar zu den beiden klassischen Perioden der deutschen Literatur geführt (zur Staufischen Klassik des Mittelalters und zur Weimarer Klassik), und hebt damit die deutsche Literatur über alle anderen Nationalliteraturen hinaus.

©rein

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