Peter Weiss: Abschied von den Eltern (1961)

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Mit seiner zweiten deutschsprachigen Veröffentlichung gelang Weiss nach dem Insidererfolg von Der Schatten des Körpers des Kutschers (1960) der Durchbruch als Prosaautor. Wie der nachfolgende und die Handlung fortführende Roman Fluchtpunkt (1962) ist auch die Erzählung Abschied von den Eltern stark autobiographisch geprägt, dabei aber durchaus historisch repräsentativ. Beide Texte zusammengenommen beschreiben den Sozialisationsprozess des Erzählers von den ersten Erfahrungen des Kleinkindes über das Verlassen des Elternhauses bis hin zur qualvollen Herausbildung einer (stets brüchig bleibenden) Autonomie und Identität des dreißigjährigen Künstlers.

Die Erzählung setzt ein mit dem fast gleichzeitigen Tod der Eltern und rekonstruiert das entfremdete Zusammenleben der gutbürgerlichen Familie vor und nach der Emigration aus Nazideutschland, die über mehrere Länder nach Schweden führt; sie zeigt die Auseinandersetzung mit dem Vater und die Schwierigkeiten der Berufsfindung; sie endet mit dem Aufbruch aus dem Elternhaus. In Rückerinnerung und analytischer Reflexion reihen sich diese Erlebnisse und Wahrnehmungen zu einem ununterbrochenen Erzählstrom. Dabei zeigt sich die Nähe des Autors und seiner Schreibweise zur psychoanalytischen Assoziations- und Deutungstechnik. Einzelne Bilder, Figuren und Situationen treten wie Traumbilder konturenscharf aus dem individualgeschichtlichen Handlungsrahmen heraus. Damit gewinnt die Erzählung exemplarischen Charakter: Sie entwirft und deutet Konstellationen des alltäglichen Schreckens, die weniger einem individuellen Lebensschicksal entspringen, sondern vielmehr in den grundlegenden Strukturen der Familie und anderer Sozialisationsinstanzen in der krisenhaft erschütterten spätbürgerlichen Gesellschaft wurzeln.

Die Fortsetzung Fluchtpunkt bietet demgegenüber, bei genauer Fixierung von Zeit, Ort und einer Figurengestaltung, die sich erkennbar an reale Weggefährten von Weiss anlehnt, eine recht präzise Darstellung des weiteren Lebenswegs. Dieser Roman beschreibt für den Zeitraum vom 8. November 1940 bis zum Frühjahr 1947 die Versuche des Erzählers, nun selbständig, in Auseinandersetzung mit dem Exilland Schweden und mit verschiedenen sozialen Schichten (Waldarbeiter, politisierende Emigranten), die eigene Identität zu fassen. Wiederum sind es jedoch vor allem ästhetische Erfahrungen (u.a. die Lektüre von Romanen Franz Kafkas und Henry Millers), die dem Ich einen festen Ort versprechen.

©JV

Quelle

Sekundärliteratur