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Das Stück muß dem heutigen Betrachter weithin fremd bleiben wie der gesamte Kult um die "Empfindsamkeit" des 18. Jahrhunderts. Was soll man von einem Drama halten, in dem die tugendhafte Tochter natürlich Maria heißt, der ehrbare Vater Thorowgood (="Durchausgut") und der aufrichtige Freund Trueman? Und in dem sich fast erwachsene Männer geradezu lustvoll weinend auf dem Boden wälzen? Exemplarisch ist das folgende Zitat (inklusive Szenenanweisung) aus der zeitgenössischen deutschen Übersetzung (die sich, wie damals üblich, an der französischen Übersetzung statt am englischen Original orientierte): "Ach! ich war dazu gebohren, alle diejenigen, welche mich lieben, vor Herzeleid ins Grab zu bringen. (Sie weinen alle beyde.)" (S. 67)

Was hat den jungen Kaufmannsgehilfen George Barnwell zu solch übersteigerter Klage veranlaßt (außer ihm stirbt nämlich "nur" noch seine bösartige Gegenspielerin)? - Als er diesen Ausspruch tut, sitzt er im Gefängnis und wartet auf die Vollstreckung seines Todesurteils. Der zweite Weinende ist sein Freund Trueman (gleich im Anschluß werden sie sich auf dem Boden wälzen...). Ins Gefängnis und damit schließlich an den Galgen gebracht hat den Protagonisten eine femme fatale. Millwood - eine "leichtsinnige Frauensperson" wie uns das Personenverzeichnis informiert - hat den gutgläubigen Jüngling zuerst verführt, dann zum Diebstahl und schließlich zum Mord an seinem reichen Onkel verleitet. Nach dem Mord will sie ihn verstoßen, wird aber von der rechtschaffenen Bürgerschaft - vertreten durch Barnwells Lehrherren Thorowgood - überführt und schließlich ebenso zum Tode verurteilt wie Barnwell selbst. Im letzten Akt nimmt der reumütige junge Mann nach einem für die weitere Entwicklung des bürgerlichen Trauerspiels vorbildlichen und äußerst beliebten Motiv in einer langen Sterbeszene Abschied von seinem Lehrherrn, seinem Freund und Thorowgoods Tochter Maria, die ihm ihre heimliche Liebe gesteht. Barnwell erweist sich damit als der vorbildliche Einzelne, der sich zur bürgerlichen wie christlichen Moral bekennt und seine Strafe als berechtigte Sühne für die Übertretung des bürgerlichen Ehrenkodexes akzeptiert. In einer in der deutschen wie französischen Übersetzung gestrichenen Szene wird sein Verhalten auf dem Weg zum Schafott noch einmal mit dem der lästerlichen Millwood kontrastiert, die sich als unbelehrbar erweist.

Das Faszination dieses Stücks liegt weniger in seiner dramatischen Qualität - die holzschnittartig gezeichneten Figuren wie die Handlung wirken auf den heutigen Leser eher unfreiwillig komisch - als vielmehr in seinem großen Erfolg. Interessanterweise wirkte es stärker als in England, wo Lillo keinen direkten Nachfolger fand, in Frankreich und vor allem in Deutschland, das als politisch zerrissener Flickenteppich in weit geringerem Maß ein bürgerliches Publikum ausbilden konnte als die beiden großen Nachbarn. Gerade in Deutschland aber war der Kaufmann von London zwischen 1754 (der deutschen Uraufführung) und ungefähr 1780 eines der meistgespielten Dramen auf allen Bühnen des Landes.

Die Bezeichnung "bürgerliches Trauerspiel" stammt nicht von Lillo selbst, sondern von seinen Übersetzern. Explizit "bürgerlich" ist das Stück denn auch weniger durch die Auswahl seiner Figuren oder den Handlungsverlauf - Lillo hatte auf eine aus dem 16. Jahrhundert stammende Ballade zurückgegriffen -, als vielmehr durch die Präsentation einer rigiden Tugendmoral, die hier allerdings mit einer ausgeprägten Weinerlichkeit verbunden wird. Besonders deutlich wird dies in den dramaturgisch nicht motivierten Belehrungen, die der Kaufmann seinem Musterschüler Trueman erteilt und in denen er den Kaufmannsstand als eine dem Adel gleichwertige und für die allgemeine Wohlfahrt unverzichtbare Klasse bezeichnet.

Dieser ökonomische Aspekt wird aber von Lillos Nachfolgern in Deutschland nicht übernommen. Stärker betont werden dort die Weinerlichkeit und die strikte Tugendmoral. Stilbildend wirkt dabei vor allem Lessing, dessen Miß Sara Sampson zumindest indirekt durch Lillo beeinflußt ist: Die Gegenüberstellung zwischen der tugendsamen und der lasterhaften Frau findet sich auch bei ihm - dabei heißt seine femme fatale dann Marwood statt Millwood.

© JK

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