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Neben die auktoriale Erzählsituation und personale Erzählsituation stellt Stanzel mit der Ich-Erzählsituation einen dritten 'typischen' Fall: In ihr dominiert das berichtende Erzählen durch eine 'Erzählerfigur' (also 'telling') und die 'Innensicht' auf das Figurenbewußtsein. Unter der Kategorie 'Person' ist diese Erzählsituation immer mit einem Erzähler in der Ich-Form verbunden. Da aber auch ein auktorialer Erzähler durchaus "Ich" sagen kann, muß eine Abgrenzung vorgenommen werden: In der Ich-Erzählsituation bezeichnet die erste Person Singular sowohl den Erzähler als auch eine Handlungsfigur, der Erzähler und die Figur gehören also dem selben 'Seinsbereich' an.

Die Ich-Erzählsituation vereint mehrere, scheinbar widersprüchliche Aspekte: Zum einen scheint die 'epische Distanz' vollständig aufgehoben zu sein, steht der Erzähler doch als ein Handelnder mitten im Geschehen. Zum anderen aber ist dieselbe Distanz geradezu konstituierend für ihn, da er doch nur erzählen kann, was zeitlich schon vergangen ist. Wie man sieht, ist der Ich-Erzähler eine "gespaltene Persönlichkeit", deren eine Seite als "erlebendes Ich", die andere als "erzählendes Ich" bezeichnet wird. Diese Aufteilung erlaubt es ihm auf der einen Seite, sehr authentisch und unmittelbar über sein Innenleben zu reflektieren. Doch ist diese Möglichkeit zur ausgiebigen Introspektion durch ein sehr enges Blickfeld - eben nur das seine - erkauft, das erfordert, andere Figuren lediglich von außen zu beschreiben. Eine gewisse Nähe zur personalen Erzählsituation liegt hier auf der Hand. Auf der anderen Seite aber erzählt er seine Geschichte - häufig sein Leben oder doch wenigstens Episoden daraus - aus einem mehr oder weniger großen zeitlichen Abstand. Das befähigt ihn, kommentierend und wertend, zuweilen reuevoll, auf sein Leben zurückzublicken, was seine Perspektive wiederum an die des auktorialen Erzählers annähert.

Um dieses unübersichtliche Feld zu systematisieren, kann man innerhalb der Ich-Erzählsituation noch einmal vier unterschiedliche Formen voneinander abgrenzen. Als Unterscheidungskriterium dient dabei zum ersten, ob der zeitliche Abstand, aus dem erzählt wird, groß genug ist, um dem Erzähler eine Übersicht über die Geschichte zu gestatten. Es handelt sich also darum, ob mit oder ohne eine ausgeprägte Retrospektive erzählt wird. Zum zweiten kann das Erzähler-Ich entweder seine eigene Geschichte erzählen (Zentralstellung) oder aber auch als Zeuge ('I as witness' oder 'Je témoigne') die Geschichte eines anderen erzählen. Aus diesen zwei Kriterien ergeben sich vier mögliche Formen der Ich-Erzählsituation: 1) Retrospektive mit Zentralstellung des Ich-Erzählers (z.B. im autobiographischen 'Memoirenroman' wie Thomas Manns Felix Krull); 2) Retrospektive mit Randstellung des Ich-Erzählers (z.B. in Thomas Manns Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, nämlich dem Ich-Erzähler Dr. phil. Serenus Zeitblom); 3) keine ausgeprägte Retrospektive bei Zentralstellung des Ich-Erzählers (wie im Briefroman, z.B. Die Leiden des jungen Werthers von Goethe); und 4) keine ausgeprägte Retrospektive bei Randstellung des Ich-Erzählers (z.B. in den Detektivgeschichten von Arthur Conan Doyle, in denen Dr. Watson als Ich-Erzähler über die Recherchen seines Freundes Sherlock Holmes erzählt).

Diese vier Möglichkeiten der Ich-Erzählung lassen sich auch in erzählerischen Gebrauchsformen wiederfinden. Der erste Fall in Memoiren oder der Autobiographie (1), der zweite in der Biographie (2), der dritte im Brief (3) und der vierte in Reportage oder Bericht (4).

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Sekundärliteratur