Oralität und Literalität

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Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts äußert sich ein verstärktes interdisziplinäres Interesse an der Erforschung von oralen Kulturen; von Gesellschaften also, die nicht über Schriftsysteme als Speicher- und Kommunikationsmittel verfügen. Auch historische Dokumente werden verstärkt auf oral geprägte Merkmale und Ausdrucksformen untersucht.

Dabei zeigt sich, daß die Einführung der Schrift in eine Gesellschaft mehr bedeutet als die bloße Verfügbarkeit eines neuen Handwerkzeugs: Vielmehr ist eine wesentliche Umstrukturierung von Denkweisen und Mentalitäten als Folge der Schriftlichkeit zu konstatieren. Zahlreiche komplexe Kulturleistungen sind mit der Verbreitung von Schriftsystemen verbunden.

Mündlichkeit ist durch das Fehlen eines außerkognitiven Speichermediums geprägt. Geschichtliches Wissen erstreckt sich in der Regel nur über drei bis vier Generationen zurück, darüber hinausgehende Erfahrung wird in mythischen Erzählungen tradiert. Anders gesagt: Alles, was nicht gebraucht wird, wird vergessen. Das Erinnerte wird hingegen im Zuge gesellschaftlichen Wandels unmerklich den neuen Verhältnissen angepaßt (homöostatisches Gedächtnis). Es gibt keinen Urtext, an dem man sich orientieren kann: Änderungen im Wissensbestand sind daher nicht rückgängig zu machen. Wissen ist gemeinsamer Besitz, der an bestimmte Mnemotechniken (Erinnerungstechniken) und Darstellungsweisen gebunden ist: sprachrhythmische Formeln, Reim und Metrum, Wiederholungen, gestische und mimetische Darstellungsweisen im Vortrag. Der Erzähler, der nicht der kreative Urheber seiner Geschichte ist, lernt nicht den Wortlaut eines Textes auswendig, sondern die Handlungsketten und einen bestimmten Rhythmus.

Abstraktes und formallogisches Denken sowie die Fähigkeit zur distanzierten Selbstanalyse scheinen an die Entwicklung von Schrift gebunden zu sein. Schreib- und Leseprozesse trennen die jeweilige Person von sozialen Handlungen ab und ermöglichen zugleich den Zugriff auf räumlich oder zeitlich weit entferntes Geschehen. Ein permanenter Speicher ist verfügbar. Die Zweidimensionalität des Textes erlaubt neben Verweissystemen zunehmend komplexe mathematische Operationen. Ein detailreicheres Vokabular, systematische Ordnung, vielfältige Archive entstehen, die Einheit von Mythos und Logos bricht auf, an deren Ende das neuzeitliche Subjekt steht. Zahlreiche Aspekte von Schrift sind aber mit der Erfindung des Buchdrucks verbunden oder entfalten erst mit seiner Hilfe ihr Wirkung. Das stumme Lesen wäre hier zu nennen. Kanonische Texte wie die Bibel machen aufgrund des kontinuierlichen kulturellen Wandels eine Hermeneutik und zahlreiche kommentierende Schriften nötig, welche die Verstehenslücke zwischen den zwei Kulturzuständen überbrücken. Dies gilt dann allerdings auch für solche oralen Kulturen (wie beispielsweise im alten Indien), die - anders als oben erwähnt - eine wörtliche Überlieferung gepflegt haben.

Die starre Gegenüberstellung oraler und literaler Kulturen, wie sie unter anderem von Ong formuliert worden ist, wird heute, im Zeitalter multikultureller Gesellschaften mit ihren heterogenen kulturellen Praktiken, von unterschiedlichen Seiten als eurozentristischer Mythos dekonstruiert bzw. eingeschränkt. Es wird darauf verwiesen, daß Oralität und Literalität dialektisch aufeinander bezogen sind und deshalb in allen Kulturen Mischformen von 'Oraliteralität' auftreten, weshalb funktionale Betrachtungsweisen ein besseres Verständnis von Oralität und Literalität erlauben. Die jeweils eingenommene Position hat erhebliche Auswirkungen vor allem auf bildungspolitische Konzeptionen.

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Sekundärliteratur