Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit (1991)

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Ziel dieser "historischen Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien" ist "die Beschreibung der sozialen Gemeinschaft in einem Teil Europas im 15. und 16. Jahrhundert als ein Informations- und Kommunikationssystem, welches durch den Buchdruck als Schlüsseltechnologie hervorgebracht wurde." (S. 22). Daß dieses Buch (zunächst eine Bielefelder Habilitationsschrift) in kurzer Zeit große, auch außerfachliche Resonanz gefunden hat, lässt sich dadurch erklären, dass Giesecke einen Vorgang beschreibt und analysiert, zu dem es heute eine deutliche Parallele gibt: Auch gegenwärtig haben wir es mit der Einführung eines neuen Mediums zu tun, das zunehmend zur "Schlüsseltechnologie" unserer Gesellschaft wird und die "soziale Gemeinschaft" in hohem Ausmaß bestimmt, wenn nicht gar neu hervorbringt. Die "Fallstudie" sieht den Buchdruck mit beweglichen Lettern und seinen vielfältigen Folgen wegen seiner geschichtlichen Abgeschlossenheit und speziellen Ausprägung als einzigartig und unwiederholbar an, als Beispiel für eine Implementierung eines neuen Mediensystems, das aber auch mit anderen solcher Fälle verglichen werden kann (Übergang von schriftlosen zu Schriftgesellschaften, Übergang von Bild- zu Buchstabenschriften, Übergang von Printmedien zu elektronischen Medien). Analysiert und bewertet wird der Buchdruck von Giesecke aus heutiger Perspektive, also von den modernen Kommunikations- und Informationstechnologien her.

Angesichts des Themas umfasst Gieseckes Darstellung kommunikations-, sozial-, technik-, literatur-, sprach-, bildungs-, kultur-, zivilisations-, ja sogar religions- und politikgeschichtliche Aspekte. Untersucht werden also (u.a.!) der Einfluss der Reformation auf Akzeptanz und Verbreitung des Mediums Buchdruck; die Bedeutung des neuen Mediums für die politische, gesellschaftliche und soziale Kommunikation sowie die Schaffung und Prägung einer 'öffentlichen Meinung'; technische Voraussetzungen und Entwicklungen; ökonomische Folgen; die Folgen des Buchdrucks für die Prämierung bestimmter Sinne des Menschen; die Veränderungen der Autorrolle und des Wissenschaftssystems; die Bedeutung des gedruckten Buches für die individuelle und kollektive Bildung und die Privatlektüre. Außerdem werden Druckverfahren anderer Kulturen (China, Südkorea) behandelt; die Untersuchung bezieht sowohl die mittelalterliche Handschriftenkultur als auch Druckverfahren vor Gutenberg mit ein; und die gegenwärtige Informationsgesellschaft wird ohnehin häufig mit reflektiert.

"Hauptthese ist der radikale Bruch des Druckzeitalters mit der älteren, auf oralen [= mündlichen] und skriptographischen [= handschriftlichen] Informationssystemen beruhenden Kultur des Mittelalters [...]. Der Druck hat eine Standardisierung der Texte, ihrer Darbietung und der Regeln ihrer Erschließung zur Folge. Er löst sie aus gruppen- und institutionengebundener Kommunikation und verwandelt sie in Elemente einer prinzipiell öffentlichen, virtuell jedermann zugänglichen Kommunikation. Er hat eine 'Vernetzung' kleinerer Kommunikationssysteme in wenigen Jahrzehnten zur Folge, was die Bedeutung schriftlich tradierten Wissens für die soziale Praxis unabsehbar steigert. Er revolutioniert, zumindest in einigen zentralen Bereichen, dieses Wissen selbst, indem die Darbietung, weit stärker als zuvor, auf Anschaulichkeit und praktische Umsetzbarkeit ausgerichtet wird." (J.-D. Müller, in: Internationales Archiv zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 18 (1993) 1, S. 169).

Bei der thematischen Breite des Buches blieb Kritik nicht aus. Neben der Detailkritik aus verschiedenen Fächern, die beim interdisziplinären Anspruch dieser Studie unvermeidlich war, gab es auch grundsätzliche Einwände gegen die Methodik, die z.T. als nicht angemessen, weil anachronistisch bewertet wurde: Giesecke geht kommunikationssoziologisch und systemtheoretisch vor, und er bewertet die Vergangenheit strikt nach Kriterien der Gegenwart. Am deutlichsten wird das daran, dass er den Buchdruck und seine Folgen ebenso als Medienrevolution ansieht wie die Durchsetzung der elektronischen Medien in unserer Gegenwart; von einer schlagartigen Durchsetzung des neuen Mediums mit unmittelbaren gravierenden Folgen für die ganze Gesellschaft kann man aber in Bezug auf den Buchdruck sicher nicht sprechen, und um das Gegenteil zu erweisen, muss Giesecke manchmal sehr gewaltsam interpretieren. Weiterhin bedient Giesecke sich einer Begrifflichkeit, die den Naturwissenschaften und insbesondere der Computertechnologie entlehnt ist (Medien als Katalysatoren und Prozessoren, Informationsinput/-output, mittelalterliche Ablassbriefe als Form einer "Rationalisierung der Bürokommunikation", Bibeln als "zentrale Informationsspeicher" usw.). Er sieht solche Termini überwiegend nicht als Metaphern, sondern vertritt die Meinung, dass ihr Gebrauch durch tatsächliche Parallelen in Vergangenheit und Gegenwart gerechtfertigt sei.- Im Nachwort zur Taschenbuchausgabe von 1998 setzt Giesecke sich mit einigen der gegen ihn erhobenen Vorwürfe auseinander.

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