Drucken

* 18.6.1929, Düsseldorf

Philosoph und Soziologe

Jürgen Habermas hat keine eigenständige oder ausgearbeitete hermeneutische Theorie vorgelegt, weil sein wissenschaftlicher Anspruch weiter zielt - auf eine Theorie des gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses schlechthin und auf dessen Verflechtung mit anderen Instanzen der Vergesellschaftung, wie dem ökonomischen Prozeß und den sozialen und politischen Institutionen. In diesem Rahmen einer Theorie des kommunikativen Handelns haben dann allerdings auch hermeneutische Fragestellungen ihren Platz.

Wie Gadamer bestimmt auch Habermas das hermeneutische Problem des Textverstehens als Sonderfall des Gesprächs, geht also von der Annahme einer Verständigungsgemeinschaft aus. Aber anders als Gadamer ist Habermas davon überzeugt, daß wir im Dialog oder Textverstehen nicht ohne weiteres den "Sinn der Sache" annehmen müssen. Wir leben zwar in einer sprachlich strukturierten Gemeinschaft, in der wir aber als individuierte Einzelne kommunizieren. Die intersubjektive Geltung sprachlicher Symbole ermöglicht zweierlei zugleich: die gegenseitige Identifikation "als gleichartige Subjekte", aber auch das Festhalten an der "Nicht-Identität des eigenen Ichs mit dem Anderen" (S. 199).

Auf die Texthermeneutik bezogen, fordert Habermas' kommunikatives Modell daher eine doppelte Leistung: Rekonstruktion des historischen Sinns und eine gegenwärtige Stellungnahme zum Geltungsanspruch jenes Sinns, d.h. möglicherweise auch die im Horizont gegenwärtiger Erfahrung begründbare Abgrenzung von ihm. An Stelle von Sinnverstehen, das auf Einfühlung oder unbefragter Traditionsübernahme basiert, tritt eine geschichtsbewußte Sinnkritik. (In diesem Sinn setzt sich Habermas in seinem Buch Erkenntnis und Interesse u.a. kritisch mit Diltheys Einfühlungshermeneutik auseinander.)

Diese Forderung basiert auf der Überzeugung, daß Sprache als Instanz der Vergesellschaftung keineswegs jenes allumfassend-autonome System ist, als das Gadamer sie noch sieht (Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache). Zwar ist es richtig, daß Sprache einerseits das Umgreifende ist, andererseits aber ist sie zumindest partiell durch materielle Gewalt der beiden Instanzen Arbeit und Herrschaft bestimmt (zum Beispiel: Sprache als Medium von Politik, Werbung, Sprache am Arbeitsplatz, in der Prüfung usw.). Die Möglichkeiten der Hermeneutik sollen präzisiert und dadurch erweitert werden, daß sie die Dimension der Ideologiekritik in sich aufnimmt. Der Begriff "Ideologie" wird bei Habermas in dem auf die ältere Frankfurter Schule (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer) und weiter auf den frühen Karl Marx zurückgehenden Sinn von "notwendig falschem Bewußtsein" gebraucht. Gemeint ist in diesem Zusammenhang, daß reale Bedingungen der Vergesellschaftung (Familienstruktur, Arbeitsbedingungen, Klassenstruktur und politische Verfassung einer Gesellschaft usw.) in systematischer Weise ("notwendig") Bewußtseinsformen, Weltbilder und Deutungen hervorrufen, mit deren Hilfe die Individuen sich in jenen Verhältnissen zwar zurechtfinden, die ihnen aber zugleich die Einsicht in die tatsächlichen Strukturen verschleiern und verwehren.

Für Habermas ist es nun gerade die relative Offenheit des Sprachsystems, die es ermöglicht, den Geltungsanspruch sprachlich fixierter Traditionsansprüche zu problematisieren. Aber nicht in der Weise, daß - wie bei Gadamer - die eindeutige Geltung des tradierten Sinnes bekräftigt wird; vielmehr so, daß im Verstehen bzw. in seiner sprachlichen Explikation (z.B. in einer Text-Interpretation) gerade auch die Nicht-Identität, das Nicht-Einverständnis mit dem intendierten Sinn und seinem Geltungsanspruch artikuliert werden kann. Damit gewinnt auch das hermeneutische Verfahren Anteil am emanzipatorischen Erkenntnisinteresse.

© DS/JV

Wichtige Schriften

Sekundärliteratur