Friedrich A. Kittler Aufschreibesysteme 1800 · 1900 (1985)

Drucken

Wenn bei einer Habilitationsschrift insgesamt 13 Gutachten notwendig sind, um zu einer Einigung zu kommen, muß vermutlich - eine sachliche Diskussion vorausgesetzt - zweierlei strittig sein: inhaltliche Befunde oder Thesen, die dem Gegenstandsbereich des Fachs nicht eindeutig zugeordnet werden und formal eine zumindest umstrittene Argumentationsweise. Über beides kann bei Friedrich Kittlers Aufschreibesystemen trefflich gestritten werden: inhaltlich fordert er nicht weniger als einen Paradigmenwechsel der Literatur-, wenn nicht sogar der Geisteswissenschaften; formal bleibt die Beurteilung von Argumentation und Stil des Buchs jedenfalls eine Geschmacksfrage.

Worum geht es? Friedrich Kittlers zentrale Einsicht liegt darin, daß Texte vor allem durch ihre "Machart" - d.h. durch die Art und Weise wie sie technisch hergestellt werden - bestimmt sind. Präziser gesagt geht es Kittler um die Frage, wie Diskurse durch sich wandelnde technische Medien gestaltet werden. Die zu einem bestimmten Zeitpunkt nachweisbaren Formationen des Diskurses nennt er "Aufschreibesysteme": "Das Wort Aufschreibesystem […] kann auch das Netzwerk von Techniken und Institutionen bezeichnen, die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben." (S. 519) In seiner Studie untersucht er zwei exemplarische Epochenschwellen, die sich jeweils durch die Durchsetzung eines neuen Aufschreibesystems auszeichnen: Die Jahre um 1800, in denen die allgemeine Alphabetisierung einsetzt, und die Jahre um 1900, in denen die technische Datenspeicherung beginnt.

Entgegen den Gepflogenheiten seines Fachs macht Kittler nicht die Interpretation literarischer Texte, sondern die Analyse der technischen Bedingungen der Aufschreibesysteme zum Gegenstand seiner Untersuchungen: "Spätestens seit der zweiten industriellen Revolution mit ihrer Automatisierung von Informationsflüssen erschöpft eine Analyse nur von Diskursen die Macht- und Wissensformationen noch nicht. Archäologen der Gegenwart müssen auch Datenspeicherung, -übertragung und -berechnung in technischen Medien zur Kenntnis nehmen. Gerade die Literaturwissenschaft kann nur lernen von einer Informationstheorie, die den erreichten technischen Stand formalisiert anschreibt, also Leistungen und Grenzen oder Grenzen von Nachrichtennetzen überhaupt meßbar macht. Nach Sprengung des Schriftmonopols wird es ebenso möglich wie dringend, sein Funktionieren nachzurechnen." (S. 519) - Daß Kittler hier vom "Nachrechnen" schreibt und damit auf einen Begriff der Informationstechnik zurückgreift, ist kein Zufall. Vielmehr gehört dies zu seiner (in späteren Schriften noch deutlicher formulierten) Forderung nach einem Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft: hin zu einer Wissenschaft von den technischen Bedingungen der Informationsspeichersysteme.

Er bricht deshalb mit den Regeln der herkömmlichen Literaturwissenschaft nicht nur, indem er ihr einen neuen Gegenstand verschreibt, sondern auch indem er traditionelle, an einem hermeneutischen Verstehenskonzept orientierte Analysemethoden verabschiedet: "Um solche Regelkreise von Sendern, Kanälen und Empfängern zu beschreiben, helfen Momentaufnahmen weiter als Geistesgeschichte." (S. 520f.) Entsprechend seiner Orientierung an den Methoden des Poststrukturalismus gehört es deshalb zu Kittlers Ansatz, daß aus diesen vielen "Momentaufnahmen" eben kein "Gesamtbild" entstehen kann - keine Zuordnung eines "Gesamtsinns" zu einer Anzahl beobachteter Phänomene möglich ist. Gerhard Plumpe kommentiert dies wie folgt: "Eine gewisse faszinierte Verwirrtheit - das mag der Eindruck sein, mit dem man das Buch aus der Hand legt." (Plumpe, S. 10)

Faszination und Verwirrung markieren die Diskussion um die Aufschreibesysteme: Das Buch hat wie kaum ein zweites in den letzten Jahrzehnten in den Kulturwissenschaften Epoche gemacht. Kittlers neuer Ansatz wurde ebenso heftig abgelehnt wie als Bereicherung und erwünschte Erweiterung (oder Neuorientierung) des traditionellen Blickwinkels erfreut aufgenommen.

© JK

Quelle

Sekundärliteratur