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Goethes Roman endet (im Erstdruck von 1774) mit dem ärztlichen Blick auf die Leiche des Selbstmörders - über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben - und ohne moralische Wertung oder metaphysischen Trost: Kein Geistlicher hat ihn begleitet. Die medizinische Perspektive und der Ausfall moralischer Bewertung oder religiöser Entlastung markieren drei Quellen der literarischen Innovationskraft und der euphorischen, ja skandalträchtigen Rezeption des Werkes, das seinen jungen Autor mit einem Schlag in ganz Europa berühmt machte.

Die Geschichte des jungen Werther, der sich hoffnungslos in die "so gut als" verlobte Lotte verliebt und sich aus Verzweiflung über die Unmöglichkeit irdischer Wunscherfüllung erschießt, habe Goethe bewusst als eine historia morbi geschrieben, als eine Krankengeschichte "ohne unten angeschriebene Lehren, a. b. c. d." (Johann Caspar Lavater). Quelle dieser pathologischen Studie - das ist um 1770 neu - ist die Wirklichkeit. Neben eigenen Erfahrungen, in erster Linie aus der Dreiecksbeziehung zwischen Goethe, Johann Christian Kestner und dessen Verlobter Charlotte Buff in Wetzlar, verarbeitet Goethe vor allem den Bericht Kestners über eine unglückliche Liebe und den Selbstmord des Carl Wilhelm Jerusalem, eines Kollegen Goethes am Reichskammergericht in Wetzlar. Goethe übernimmt Details des Falles zum Teil wortwörtlich. Trotz dieser Nähe zur Realität ist Goethes Werther ein hochartifizieller und durchkomponierter Text - weder bloße Selbstaussprache noch Schlüsselroman.

Werthers "Krankheit zum Tode" beginnt nicht erst mit der unglücklichen Liebe zu Lotte; schon ganz zu Beginn gibt es Hinweise auf seine Todessehnsucht. Sein Grundproblem ist die typisch "moderne" Kluft zwischen Innen und Außen. Innen ist das "Herz", das unzählige Male angerufen wird - als Chiffre für das Wollen und Wünschen, das Sehnen und Begehren. Das Außen, das ebenso oft Male als "Einschränkung" oder "Enge" gefaßt wird, ist dem Herzen grundsätzlich fremd und feindlich.. Diese Kluft bedeutet, dass der Künstler Werther seine starken Empfindungen nicht entäußern, ins Bild umsetzen kann. Für den Liebenden heißt es, dass er sein Gefühl für grundsätzlich nicht in soziale Wirklichkeit übersetzbar hält. Aus dieser Innen-Außen Kluft entwickelt Werther zwei verschiedenen Glücksvorstellungen: Zum einen sieht er - in der Tradition Jean Jacques Rousseaus - in der natürlichen Naivität der Kinder und des einfachen Volks das verlorene Paradies. Zum anderen sehnt er sich nach der Aufhebung aller Einschränkungen, nach Totalität des Ausdrucks und der Ich-Empfindung.

Vor diesem Hintergrund ist auch die "Gesandtschaftsepisode" zu Beginn des zweiten Teils zu sehen. Werther ist nicht gewillt oder nicht fähig, sich in eine komplexe Welt aus Regeln und Rängen, Pflichten und Zwängen einzufügen. Der junge Bürger provoziert seinen Ausschluss aus der adeligen Abendgesellschaft, zieht sich gekränkt vom Hof und seinem Posten zurück, um schließlich wieder zu Lotte und Albert zurückzukehren. Dort steigert sich Werthers süßes Gefühl, diesen Kerker jederzeit verlassen zu können, zum festen Entschluss zu sterben - und zur Wunschvision der Aufnahme in eine imaginäre, jenseitige Familie, in der Werther sich endgültig auf die Position des Kindes/Sohnes festlegt.

Die suggestive Form des Briefromans ist die für die ungeheure Wirkung des Werkes verantwortlich. Es besteht fast ausschließlich aus Briefen Werthers an seinen Freund Wilhelm, dessen Antwortbriefe aber ebenso fehlen wie die anderer Personen. Der Roman bietet, abgesehen von einigen auktorialen Passagen eines fiktiven Herausgebers, nur die Perspektive der Ich-Figur. Diesem Sog der Identifikation war und ist schwer zu entgehen, so daß die Zeichen der Distanzierung und der impliziten Kritik des Textes an seiner Hauptfigur leicht überlesen werden. So erzählt Goethe zwar eine Krankengeschichte, aber ohne Werther zu pathologisieren, vielmehr erreicht er gerade durch die Identifikation mit einem Selbstmörder, dessen Erleben als Grenzwert des Normalen zur Darstellung zu bringen. Den Sog der Identifizierung hat Goethe bereits in der 1775 erscheinenden zweiten Auflage angesichts des zeitgenössischen "Wertherfiebers" durch ein Motto zu mildern gesucht: Sei ein Mann und folge mir nicht nach. In einer zweiten Fassung von 1787 hat er die Distanz zur Wertherfigur weiter vergrößert und Albert aufgewertet, so daß ihn wohl der leidenschaftliche Jüngling, aber doch der Leser nicht verkennt.

Neben leidenschaftlicher und enthusiastischer Feier des Romans und skeptischen bzw. satirischen Tönen aus dem Lager der Aufklärung gab es auch scharfe Kritik von kirchlicher Seite. Man befürchtete, dass Werthers Krankheit, sein Bewußtsein von der Kluft zwischen Innen und Außen, ansteckend sein könnte. Und in der Tat läßt sich behaupten, dieser erste deutsche Roman von weltliterarischem Rang sei nicht einfach nur 'modern' ist, sondern habe das spezifische Lebensgefühl der Moderne wesentlich geformt.

©JL

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