Historische Leseforschung

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Die Kulturtechnik Lesen muß als Werkzeug der Welterschließung und Kommunikation nicht nur von jedem Individuum neu erlernt werden: Lesen als soziales Handeln ist unausweichlich auch vom historischen Wandel geprägt. Die Erforschung der Geschichte des Lesens erfolgt interdisziplinär im Rahmen der Medien- und Literaturgeschichte, der Sozial- und Mentalitätsgeschichte, der Geschichte des Buchdrucks und Buchhandels und nicht zuletzt der Bildungsgeschichte. Der Rückblick auf das Leseverhalten in früheren Zeiten zeigt, daß fast nichts, was an den heutigen Lesefertigkeiten und -gewohnheiten als "normal" gilt, selbstverständlich ist. Da hilft die Rekonstruktion vergangener Leseepochen in ihrer jeweiligen Besonderheit, auch die Eigenart heutiger Umgangsweisen mit Buch, Zeitung oder Bildschirm-Text staunend zu begreifen. Wer liest wann? wo? was? wie? wozu? und wieviel? Mit diesen Fragen werden einige Parameter des Wandels erfaßt.

In der griechischen Hochkultur war das laute Lesen von Texten wenig mehr als eine Hilfestellung für die daraus erwachsende mündliche Rede. Bis in die Zeit nach der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern - Mitte des 15. Jahrhunderts durch Johannes Gutenberg in Mainz - legte das jeweilige Speichermedium die körperliche Rezeption der Botschaft fest: Die fragilen Papyrusrollen der Antike nahmen beide Hände zum Abspulen in Beschlag. Die schweren, großen (und teuren) Manuskriptbände (Kodizes) aus Pergament waren hingegen so eng und ohne Abstand zwischen den Einzelwörtern beschrieben, daß beim Lesen laut buchstabiert werden mußte, um die Sinneinheiten zu erfassen - buchstäblich mit Hilfe des am Text entlang gleitenden Fingers. Der Kodex lag auf Tischplatte oder Lesepult und konnte nicht an beliebigen Orten gelesen werden. Bis ins Hochmittelalter wurde nur professionell gelesen: in den Klöstern, wo die kanonischen Texte (geistliche wie weltliche) aufbewahrt, abgeschrieben und studiert wurden.

Zwischen 1500 und 1700 sind nur 2-4 % der Bevölkerung lesekundig, obgleich der frühbürgerliche Handel und das Rechtswesen in den Städten neue Lese- und Schreibanlässe schuf. Die Reformationszeit verstärkte die Lesebedürfnisse im privaten Raum. Religiös motivierte Lektüre, bis ins 18. Jahrhundert die Funktion des Umgangs mit Büchern, war eine ehrfurchtsvolle, laute und familiäre Wiederholungslektüre der Bibel und anderer vererbter Bücher mit einem als zeitlos begriffenen Gehalt. Diese Lektüre war oft zeitlich ritualisiert (Jahreszeiten, bestimmte Tage, Tageszeiten).

Im 18. Jahrhundert, der Epoche der Aufklärung, entstehen in rasantem Tempo ein bürgerliches Lesepublikum und damit neue Leseformen. Während für männliche Leser nach dem Eintritt ins Berufsleben Sachbücher und informierende Schriften im Vordergrund stehen, verbreitete sich die Lektüre von Belletristik, besonders der handlichen Romane, unter Mädchen und Frauen gehobeneren Standes immer weiter. Nicht wenige wollten im Zeitalter der Vernunft in der "Frauenzimmer"-Lektüre Unmoral, Zeitverschwendung und Pflichtvergessenheit erkennen und versuchten, diese neue "Lesesucht" zu bekämpfen. Lesezirkel, Lesekabinette und Lesegesellschaften machten die noch immer sehr teuren Bücher, daneben auch Zeitschriften und Zeitungen den Männern in geselliger, oftmals demokratisch verfaßter Runde zugänglich. Hingegen konnten die Frauen ihre Benachteiligung im öffentlichen Leben bei der Lektüre belletristischer Texte zumindest vorübergehend kompensieren. Wie zeitgenössische Grafiken zeigen, fand damals eine starke Veränderung der körperlichen Lesehaltung statt: Stimme, Ohr und Hände treten zurück, das Lesen bleibt den Augen überlassen. Wer las, klinkte sich aus dem Erfahrungsraum seiner Um- und Mitwelt aus, um eigene Erfahrungen durch und mit dem jeweiligen Text zu machen.

Im 19. Jahrhundert finden fast nur noch quantitative Verschiebungen im Leseverhalten statt: Ein Massenpublikum entstand, das mit Hilfe von neuen Erfindungen (Papier aus Zellstoff statt aus Lumpen, Schnellpresse, Gießmaschine, Setzmaschine, Rotationsmaschine etc.) schneller, billiger und effektiver bedient werden konnte: Die Lektüreindustrie bediente im letzten Drittel des Jahrhunderts sowohl die Bildungsbürger (v.a. Klassikerausgaben) als auch proletarische und kleinbürgerliche Schichten (Kolportageromane in fortlaufenden Teillieferungen) mit immer neuem Lesestoff. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde die Alphabetisierung fast vollständig erreicht.

Neue, leichter konsumierbare Medien wie Rundfunk, Film und Fernsehen konkurrierten im 20. Jahrhundert mit der, obwohl es noch nie so viele neue Bücher gegeben hat wie im vergangenen Jahrhundert. Neue, oft medienintegrative Speichermedien wie der Computer und das Internet verändern die alltäglichen und populären Lesegewohnheiten derzeit abermals, bringen aber auch anspruchsvolle neue Formen wie Hypertext, Hyperfiction und Netzliteratur hervor.

© pflug

Sekundärliteratur