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* 19.11.1833, Wiesbaden
† 01.10.1911, Seis bei Bozen

Philosoph, Psychologe und Pädagoge

Wilhelm Dilthey war um 1900 die Zentralfigur der sosogenannten Lebensphilosophie in Deutschland. Schon früh hatte er sich intensiv mit Schleiermachers Hermeneutik befaßt. In seinem eigenen umfangreichen Werk behandelt er Fragen der Philosophie und Erkenntnistheorie, Psychologie und Pädagogik, aber auch der Kunst und Literatur. Die Vielfalt der Gegenstände und Disziplinen wird durch den Versuch verbunden, für sie eine gemeinsame, von den damals so erfolgreichen Naturwissenschaften unterschiedene Erkenntnismethode zu bestimmen. Während jene die physische Welt erklären, sollen die von Dilthey so genannten Geisteswissenschaften die menschliche Welt verstehen, und zwar "sofern menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden." (S. 98)

Der Dreischritt von Erleben, Ausdruck, Verstehen ist das Basismodell von Diltheys Hermeneutik. Es bewährt sich in elementaren Formen des Verstehens schon in den alltäglichen Interaktionen. Die Menschen müssen sich gegenseitig verständlich machen, auch in nichtsprachlichen Ausdrücken: "Eine Miene bezeichnet uns Freude oder Schmerz." (S. 255) Dilthey konzentriert sich dann auf die höheren Formen des Verstehens, auf die dauernden geistigen Schöpfungen [...] oder die beständigen Objektivierungen des Geistes in gesellschaftlichen Gebilden. Ausgezeichneter Gegenstand des höheren Verstehens, der hermeneutischen Auslegungskunst, ist für Dilthey aber das Kunstwerk. "Wahrhaftig in sich, steht es fixiert, sichtbar, dauernd da, und damit wird ein kunstmäßig sicheres Verstehen desselben möglich." (S. 254)

Auch das "höhere" Verstehen vollzieht sich wesentlich als Hineinversetzen, Nachbilden, Nacherleben, eine Art Wiederholung und Nachvollzug des ursprünglichen Erlebnisausdrucks bzw. Schaffensvorgangs. Möglich ist das Verstehen von - individuellen, historischen und kulturellen - fremden Äußerungen auf der Grundlage der allgemeinen Menschennatur; so wird die monadische Existenz des Verstehenden, die Determination seiner Lebensmöglichkeiten geöffnet und bereichert. Für Dilthey ist "Verstehen ein Wiederfinden des Ich im Du". (S. 235)

Dieses stark psychologisierende, die historischen Differenzen überspielende Konzept des Verstehens hat auf verschiedene Geisteswissenschaften, darunter auch auf die germanistische Literaturwissenschaft (besonders die geistesgeschichtliche Schule der zwanziger und die werkimmanente Interpretation der fünfziger Jahre) außerordentlich stark eingewirkt. Ihr ahistorischer und im Bezug auf Kunst und Literatur deutlich klassizistischer Charakter hat später jedoch auch zu kritischer Auseinandersetzung mit den Grundsätzen von Diltheys Hermeneutik herausgefordert (Hans-Georg Gadamer, Jürgen Habermas u.a.).

© DS und JV

Quelle

Wichtige Schriften

Sekundärliteratur