Roman Jakobson: Linguistik und Poetik (1960)

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* 23.10.1896, Moskau
† 18.07.1982, Boston

Linguist und Philologe

Roman Jakobson ist einer der einflußreichsten Vertreter des Strukturalismus. Er gehörte zunächst dem Kreis der Russischen Formalisten an, später im Exil den Prager Strukturalisten. Schließlich emigrierte er in die USA und verhalf dort dem ursprünglich linguistischen Strukturalismus zum Rang einer interdisziplinär anwendbaren Erkenntnismethode.

Ausgehend von Forschungsergebnissen der Phonologie hat Jakobson linguistische Konzepte auch für die Analyse von literarischen Werken verwendet, was vor allem der Literaturtheorie zu neuen Begriffen und Vorstellungen im Hinblick auf die Poetizität (Poesiehaftigkeit) von Literatur verholfen hat: Ein literarisches Werk wird erst aufgrund seiner sprachlichen Struktur, d.h. seiner formalen Gestaltung, zu einem Kunstwerk. Aus dieser Auffassung folgt, daß sich die spezifischen Kennzeichen der poetischen Struktur objektiv beschreiben bzw. analysieren lassen. Mit diesem Anspruch setzt sich Jakobson gezielt von einer das Subjekt einbeziehenden Literaturinterpretation (Hermeneutik) ab, und auch für die Literaturgeschichtsschreibung fordert er, daß sie "auf einer Reihe von sukzessiven synchronischen Beschreibungen aufbauen" müsse. (S. 145)

Jakobson erweitert in dem Aufsatz Linguistik und Poetik (1960) zunächst das dreigliedrige Organon-Modell der Sprache von Karl Bühler (1933) zu einem Sprachkonzept mit sechs Funktionen (Jakobsonsches Kommunikationsmodell). Demzufolge spielen in jeder (sprachlichen) Kommunikation sechs Faktoren eine Rolle: der Sender, der Empfänger, der Kanal, die Botschaft, der Kontext und schließlich der Code, den beide Teilnehmer beherrschen müssen.

Nur die referentielle Funktion umfaßt dabei den Bezug auf das sprachlich vermittelte Dritte, den Inhalt oder die Wirklichkeit; die konative Funktion vermittelt durch die Botschaft eine Aufforderung (Appell) an den Empfänger; die phatische Funktion dient der Herstellung und Aufrechterhaltung der Sprachverbindung zwischen den Gesprächsteilnehmern; die emotive (expressive) Funktion drückt die Haltung des Sprechers zum Gesagten sowie seine Befindlichkeit aus; die metalinguale Funktion umfaßt die Thematisierung des Codes, d.h. die Zuordnung von Bedeutung; die poetische Funktion schließlich macht die Botschaft selbst zum Thema.

Zwar ist die poetische Funktion als "Zentrierung auf die Sprache um ihrer selbst willen" (S. 151) ein allgemeines Kennzeichen von Sprache, doch sie tritt in der Literatur in besonderem Maße zutage und macht literarische Texte der linguistischen Analyse zugänglich, denn - so eine viel zitierte Feststellung: "Die poetische Funktion überträgt das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination." (S. 153) In anderen Worten: Während Sprecher einer Sprache gewöhnlich zwischen solchen Wörtern wählen müssen, die sich in ihrer Lautung, Bedeutung oder ihrer syntaktischen Funktion ähneln, aber aufgrund der jeweils anderen Kriterien doch unterscheidbar sind, werden diese Wörter in der Literatur (eigentlich: in der gebundenen Rede der Lyrik) hintereinander verwendet (prominentes Beispiel ist der Reim). Darüber hinaus benutzt Jakobson die Sprachfunktionen zur Unterscheidung literarischer Genera: "Epische Dichtung, die besonders auf die dritte Person bezogen ist, impliziert vor allem die referentielle Sprachfunktion; die sich auf die erste Person richtende Lyrik ist eng verbunden mit der emotiven Funktion; Dichtung von der zweiten Person ist von der konativen Funktion durchdrungen und ist entweder als flehend oder ermahnend charakterisiert." (S. 152) Neben der Möglichkeit der "Erwartungstäuschung" von etablierten sprachlichen oder poetischen Konventionen betont Jakobson, daß die Analyse nicht auf der Strukturebene stehenbleiben darf. Hat man einmal strukturelle Verbindungen herausgearbeitet, muß man in einem zweiten Schritt untersuchen, welche Bezüge auf der Bedeutungsebene damit impliziert werden.

Strukturale Analysen literarischer Werke haben zur 'Versachlichung' intuitiv hermeneutischer Zugangsweisen beigetragen, sind aber - vor allem wegen der Ausblendung kommunikativer Aspekte zwischen Text und Leser – auch scharf kritisiert worden.

©pflug

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