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Der Begriff der Wirkungsgeschichte wird von Hans-Georg Gadamer an zentraler Stelle seines Hauptwerks Wahrheit und Methode eingeführt und erweist sich als eine tragende und - besonders auch in literaturwissenschaftlicher Hinsicht - produktive Kategorie seines Hermeneutik-Konzepts. Dies gründet ja auf der Voraussetzung, daß das nachkommende Verstehen prinzipiell über eine unaufhebbare Differenz zwischen dem Interpreten und dem Urheber hinweg versucht werden muß, die durch den geschichtlichen Abstand gegeben ist. (Noch Wilhelm Dilthey glaubte diesen Abstand durch 'Einfühlung' aufheben zu können.) Aber jenen Abstand darf man sich nicht als gähnenden Abgrund vorstellen - er ist ausgefüllt durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt.

Das heißt: (fast) einer jeden Lektüre oder Interpretation gehen andere Lektüren und Interpretationen voraus, die - ihrerseits historisch gebunden - unterschiedliche Aspekte des Textes ins Licht rücken können. "Der wirkliche Sinn eines Textes" ist keineswegs der, den der "Verfasser" intendierte oder den "sein ursprüngliches Publikum" (S.280 f.) herauslas; er entfaltet sich vielmehr erst schrittweise, im Durchgang durch verschiedene, jeweils historisch standortgebundene Sinn-Entwürfe, noch konkreter: durch eine (tendenziell unendliche) Reihe von Interpretationen hindurch, die ihrerseits - direkt oder indirekt - auch den gegenwärtigen Interpretationsansatz mitbestimmen. "Der zeitliche Abstand [...] läßt den wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen. Die Ausschöpfung des wahren Sinnes aber, der in einem Text oder einer künstlerischen Schöpfung gelegen ist, kommt nicht irgendwo zum Abschluß, sondern ist in Wahrheit ein unendlicher Prozeß." (S. 282)

Mit solchen Formulierungen wird in diachronischer Hinsicht eine 'Hermeneutik der Entfaltung' anvisiert, wie sie in synchronischer Hinsicht durch den Strukturalismus angeregt und von Paul Ricoeur oder Uwe Japp genauer ausgeführt worden ist. Konkrete Gestalt gewinnt sie in der neueren Literaturwissenschaft vor allem mit dem Vorschlag von Hans Robert Jauß (1970), (eine) Literaturgeschichte nicht wie üblich aus der Sicht der Produktion von Literatur, sondern aus der "Dimension ihrer Rezeption und Wirkung" (S.168) heraus zu entwickeln. Dieses Konzept, das zumeist unter dem Sammelbegriff der Rezeptionsästhetik geführt wird, lehnt sich auch mit seinem Zentralbegriff des Erwartungshorizonts (S.176 f.) erkennbar an Gadamers Terminologie und Metaphorik an.

Wenn das umfassende Projekt einer 'Literaturgeschichte des Lesers' im Sinne von Jauß auch nicht realisiert werden konnte, so liegen in der germanistischen Literaturwissenschaft inzwischen doch eine ganze Reihe von exemplarischen Analysen vor, die etwa die Wirkungsgeschichte einzelner Autoren, vor allem des klassischen Kanons, rekonstruieren und teilweise in die Perspektive der Ideologiekritik rücken.

© JV

Quelle

  • Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3. Aufl. Tübingen 1972.
  • Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M. 1970.
Sekundärliteratur
  • G. Grimm: Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie, München 1977.
  • R. Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975.