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Bei der Lektüre eines fiktionalen Textes schaltet sich sowohl zwischen den Autor und die erzählte Geschichte ('histoire') als auch zwischen die Geschichte und den Leser eine Vermittlungsinstanz ein, die man als Erzähler oder zumindest Erzählinstanz bezeichnen kann. Der reale Autor, der nicht selbst zu Wort kommt, delegiert seine Erzählung gewissermaßen an einen Stellvertreter, den Erzähler, den er mit unterschiedlich großen "Vollmachten" hinsichtlich der zu erzählenden Geschichte ausstatten kann. Dieser Erzähler kann beim Lesen in einem Extremfall geradezu wie eine "Person" faßbar werden, im anderen scheint er vollständig hinter das Erzählte zurückzutreten. Dennoch ist zumindest seine Stimme vernehmbar, welche die Geschichte aus einer bestimmten Perspektive, einem bestimmten Blickwinkel erzählt. Der österreichische Anglist Franz Karl Stanzel (geboren 1923) hat sich in mehreren Büchern mit dieser Vermittlungsrolle des Erzählers ausführlich beschäftigt (Die typischen Erzählsituationen im Roman, 1955; Typische Formen des Romans, 1964; Theorie des Erzählens, 1979). Er arbeitet verschiedene Elemente heraus, die für die Stellung des Erzählers in und zu seiner Geschichte bestimmend sind. Dazu rechnet er vor allem den 'Modus' (d.h. das Überwiegen von berichtendem Erzählen durch eine 'Erzählerfigur' oder von szenischer Darstellung durch eine 'Reflektorfigur'). Weiter die 'Person', womit vor allem die Unterscheidung zwischen einer Erzählung in der ersten oder der dritten Person Singular gemeint ist (Ich- oder Er- / Sie-Erzählung), also die Frage, ob der Erzähler mit seinen Figuren einen gemeinsamen 'Seinsbereich' teilt oder nicht. Bei der 'Perspektive' unterscheidet Stanzel zwischen einer 'Innensicht', die dem Leser Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren eröffnet, und einer 'Außensicht', die lediglich das wiedergibt, was ein außenstehender Beobachter wahrnehmen kann. Aus den möglichen Kombinationen dieser Elemente ergeben sich für ihn die drei "typischen Erzählsituationen". Er ordnet sie graphisch in einem "Typenkreis" an, der Übergänge und Überschneidungen zwischen diesen Situationen sichtbar macht. Diesem Modell lassen sich dann die konkreten Erzählungen zuordnen. Im einzelnen unterscheidet Stanzel die auktoriale Erzählsituation, die personale und die Ich-Erzählsituation.

Stanzels Ensemble von Erzählsituationen ist auch über den deutschsprachigen Raum hinaus rezipiert, diskutiert und kritisiert worden (vor allem von Gérard Genette mit seinen Fokalisierungstypen). Dennoch erweist sich sein Modell im konkreten Umgang mit literarischen Texten noch heute als brauchbar. Über die Positionen Stanzels und die seiner Kritiker kann man sich im Kapitel Die typischen Erzählsituationen von Jochen Vogts Aspekte erzählender Prosa (S. 41-94) informieren.

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Sekundärliteratur