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Lesebuch

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Textsammlungen zum Einüben der Lesetechnik gab es schon in der mittelalterlichen Lateinschule; sie enthielten nur religiöse Texte. Im 15./16. Jahrhundert wurden sie durch - nicht auf die Schule beschränkte - Realienbücher ergänzt, die in Abgrenzung zu Bibel, Katechismus und Fibel Wissenswertes aus Naturkunde, Geografie und Geschichte versammelten. Prototyp des modernen Lesebuchs ist jedoch Eberhard von Rochows Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen (1776), das als erstes profanes Buch in den Mittelpunkt des Unterrichts rückt. Es präsentierte in kurzen, vom Herausgeber selbst verfassten Texten vorbildliche Gestalten und mahnende Beispiele - und verwies schon auf die künftige Sozialisations-Funktion des Mediums.

Methodisch imitierte die Leseerziehung des 18./19. Jahrhunderts den Katechismus-Unterricht. Ein Text war eindeutig zu verstehen, sein Sinn abschließend in einer - auswendig zu lernenden - Sentenz zu formulieren. Im eigenständigen Deutschunterricht kam es seit dem 19. Jahrhundert zur Durchsetzung neuer Lesebücher. Die moderne Schule basierte nicht mehr auf Glaubensvermittlung, sondern auf der Tugendlehre des Bürgertums. Durch seine Textauswahl, Textaufbereitung und Textpräsentation war das Lesebuch geeigneter Vermittler eines neuen Wertesystems. Zunächst bemühte man sich um eine Auswahl mustergültiger Proben deutscher Dichtung ("deutsche Chrestomathie"). Der Versuch eines bayrischen Ministerialbeamten, Goethe persönlich als Herausgeber eines Lesebuchs zu gewinnen, ist 1808 zwar gescheitert, doch erschienen kurz danach die ersten Bücher, die sich in der Textauswahl an den literarischen Anthologien der Zeit orientierten. Als der Deutschunterricht Mitte des 19. Jahrhunderts stärker zum Instrument der Nationalerziehung wurde, geriet das literarische und aufklärerische Konzept in Vergessenheit. Neue Lesebücher (z.B. Philipp Wackernagels Deutsches Lesebuch von 1843) wurden bewusst zur Vermittlung bürgerlich-nationaler Tugenden eingesetzt. Um 1900 ist das Lesebuch eine der wichtigsten Quellen nationaler Bildung; der Blick auf die ältere, besonders auch mittelalterliche Literatur das 'deutsche Wesen' bewahren. In den Volksschul-Lesebüchern dominieren bis weit ins 20. Jahrhundert moralisierende Beispielgeschichten, die den Kindern ihre Haltung zu Gott, Kaiser und Eltern, zur Arbeit und zum eigenen sozialen Schicksal vorgaben und zu Fleiß, Gehorsam und sozialer Genügsamkeit erzogen. Besonders beliebt waren - neben den vom Herausgeber verfassten Originaltexten - Sprichwörter, Fabeln oder Parabeln.

Die Kritik fortschrittlicher Bildungspolitiker an der Agrarromantik und am monarchistischen Grundton auch der Lesebücher in der Weimarer Republik blieb erfolglos. Mit geringen Korrekturen und eingefügten Hitler-Zitaten konnten vertraute lesepädagogische Traditionen in die rassekundlich-völkische Erziehung des nationalsozialistischen Staates integriert werden.

Gegen die Abirrungen des Nationalsozialismus sollte nach 1945 eine unpolitische Bildung gesetzt werden. Unter dem Anspruch zeitlos-ewiger Werte dominierten in den Nachkriegs-Lesebüchern realitätsferne Texte, die einen verschwommenen Heimatgedanken pflegten. Die literarische Funktion von Lesewerken wie Sieben Ähren oder Silberfracht trat deutlich hinter ihre ideologiebildende zurück. Diese "Gesinnungslesebücher" wurden Mitte der 60er Jahre jedoch sowohl von Literaturwissenschaftlern (wegen ihrer ästhetischen Dürftigkeit) wie auch von Bildungspolitikern (wegen ihres anachronistichen Weltbildes) kritisiert. In der Folge entwickelten Fachdidaktiker wie Herrmann Helmers - analog zur Schule der werkimmanenten Interpretation in der Germanistik - das "Literarische Arbeitsbuch", dessen stoff- und formorientierte, vorgeblich ideologiefreie Konzeption einer emanzipatorischen Bildung dienen sollte. Im Kontext von Studentenbewegung und heftiger Diskussion um die Reform des Deutschunterrichts wurde aber auch dieses Modell in Frage gestellt. Kritikpunkte waren das gattungspoetische Gliederungsprinzip, der enge Literaturbegriff und der mangelnde Bezug der Texte zur sozialen Wirklichkeit, besonders auch zur Lebenswelt der Schüler/innen. Gefordert wurde die Berücksichtigung unterschiedlicher Schülererfahrungen bei der Textauswahl. Fächerübergreifende, "projektorientierte Lesebücher" mit einer weit gestreuten Textauswahl sollten dies leisten. In der Folge sind zahlreiche neue Lesewerke entstanden, die diesen Anspruch durchaus einlösten (z.B. Kritisches Lesen, Drucksachen).

Um die Drucksachen gab es in den 70er Jahren, von konservativer Seite ausgelöst, nochmals eine heftige Kontroverse - aus heutiger Sicht ein Nachhut-Gefecht. Das Thema "Lesebuch" hat in den letzten dreißig Jahren deutlich an Brisanz verloren. Das hängt sicher auch mit der zunehmenden Ersetzung durch Projektmaterialien, Arbeitsblätter und Fotokopien zusammen, aber auch mit einem objektiven Bedeutungswandel der Literatur. In einer von elektronischen Medien geprägten Gesellschaft haben Fernsehen, Werbung usw. schon einen großen Teil der Sozialisations-Funktion des Lesebuchs übernommen. Dennoch ist derzeit ein breites Angebot unterschiedlich konzipierter Bücher auf dem Markt, die die Schüler/innen weder indoktrinieren noch revolutionieren wollen.

© HK

Sekundärliteratur

  • H. Helmers (Hg.): Die Diskussion um das deutsche Lesebuch, Darmstadt 1969.
  • H. Helmers: Geschichte des deutschen Lesebuchs in Grundzügen, Stuttgart 1970.
  • H. Geiger (Hg.): Lesebuchdiskussion 1970-1975, München 1977.