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* 485/480 v. Chr., Salamis
† 406 v. Chr., Pella

Euripides, der jüngste der drei großen Tragiker nach Aischylos und Sophokles, hat sich im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern nie aktiv in der Polis engagiert, etwa ein staatliches Amt übernommen oder an einem der zahlreichen Kriege des 5. Jahrhunderts teilgenommen. Ob er aus solch relativer Distanz zum politischen Geschehen Athen in seinen letzten beiden Lebensjahren verließ und nach Makedonien ging, bleibt unklar, wie überhaupt nur äußerst spärliche Informationen über sein Leben überliefert sind.

Bekannt ist allerdings, daß Euripides zu Lebzeiten mit sehr geringem Erfolg an den Dichterwettstreiten teilnahm, obwohl seine außergewöhnliche Begabung den Zeitgenossen durchaus bewußt war, wie die Parodien in der zeitgenössischen Komödie zeigen. Trotz relativer Erfolglosigkeit wurde darum den Stücken des Euripides bald nach seinem Tod das Wiederaufführungsrecht zugesprochen, so daß er schließlich zum meistgespielten und als vorbildlich verstandenen Tragödiendichter des 4. Jahrhunderts avancierte. Seine kaum zu überschätzende Fernwirkung auf die Entwicklung des gesamten europäischen Theaters reicht bis weit in die Neuzeit hinein - nicht nur in der Tragödie, sondern auch im Lustspiel.

Durch einen Zufall der Überlieferung sind von Euripides 19 Stücke (von insgesamt 90) vollständig überliefert und damit mehr als doppelt so viele als von Aischylos oder Sophokles (jeweils 7 vollständige Stücke). Sie zeichnen sich im Gegensatz zu seinen Vorgängern u.a. auch dadurch aus, daß die Rolle des Chores noch weiter zurückgedrängt wird. Man kann auch in diesem Aspekt ein Zeichen für seine Distanz zum "kollektiven Aktanten" und damit zur Polis als der sich über sich selbst verständigende Gemeinschaft sehen. Überhaupt läßt sich vor allem in seinem Spätwerk eine pessimistische Grundtendenz feststellen - denn Euripides war wie Sophokles Zeuge des allgemeinen politischen wie sittlichen Verfalls des seit Jahren unter Belagerung stehenden Athen, dessen endgültige Niederlage er aber nicht mehr erlebte.

Diese pessimistische Einstellung zeigt sich vor allem im Weltbild seiner Stücke: Die Menschen sind bei Euripides bloße Spielbälle des uneinsehbaren Willens der Götter, die sich nicht anders als die Menschen selbst von ihren Leidenschaften treiben lassen. Dies steht in deutlichem Widerspruch zu den Stücken seiner Vorgänger, die bei aller Skepsis gegenüber den Menschen doch die Götter nicht in Frage stellen wollten.

Die Distanz zu den überlieferten Lebensformen dürfte zu einem nicht geringen Teil dem Einfluß der sophistischen Aufklärungsbewegung geschuldet sein. Sie zeigt sich neben der Skepsis gegenüber der Götterwelt auch in dem ironischen Spiel mit der Sprache und den traditionellen Versatzstücken der Tragödie: In den Stücken des Euripides finden die Motive der Wiedererkennung ("Anagnorisis") und der Intrige eine bis dahin nicht gekannte Bedeutung; oftmals werden die heroischen Menschen der mythischen Überlieferung in die Sphäre des Bürgerlichen versetzt; vor allem seine dominanten Frauenfiguren können als scharfsichtige psychologische Porträts gelesen werden. Dies mag für den neuzeitlichen Blick die "Modernität" des Euripides ausmachen und hat ihm die Kritik einiger Zeitgenossen zugetragen. Andererseits führt seine Suche nach immer neuen sprachlichen wie musikalischen Formen zu ausgeprägten Manierismen, welche die Grenze zur Lächerlichkeit streifen. Ein berühmtes und schon von den Zeitgenossen verspottetes Beispiel ist das sogenannte "Besenlied" im "Ion": In gestelztem Ton besingt der Titelheld ausführlich, wie er die Treppen vor dem Tempel fegt - mitsamt einer langen Anrede an den Besen selbst und wilden Versuchen, die Vögel von den Treppenstufen zu vertreiben.

© JK

Wichtige Schriften

Sekundärliteratur