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mlat. realis: wirklich, lat. res: Sache, Ding, Wesen

Der Begriff Realismus ist im literarischen Bereich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bekannt und im 19. Jahrhundert in der literaturtheoretischen, -historischen und -kritischen Diskussion weit verbreitet: als poetologisches Programm, als Kunstprinzip, als stiltypologisches Kennzeichen oder auch zur Bezeichnung einer literaturgeschichtlichen Epoche. Dabei sind die Termini "Realismus" oder "realistisch" inhaltlich nicht nur sehr unterschiedlich, sondern geradezu kontrovers bestimmt worden. Das ergibt sich daraus, dass der Begriff von Anfang an das (vielschichtige) Verhältnis von Literatur und "Wirklichkeit" zu fassen versucht. Denn nicht nur das Wesen und die Funktion(en) der Literatur sind - seit sie überhaupt theoretisch reflektiert und wissenschaftlich untersucht werden - sehr unterschiedlich bestimmt worden. Auch das, was man unter "Wirklichkeit" oder "objektiver Realität" versteht, wird - mindestens seit dem Universalienstreit in der scholastischen Philosophie des Mittelalters (wo der Begriff Realismus zum ersten Mal auftaucht) und bis heute außerordentlich kontrovers diskutiert.

In der Literaturgeschichte bzw. der literarhistorischen Debatte hat sich seit längerem eine weit gehende Übereinstimmung herausgebildet, Realismus als Epochenbegriff für weite Bereiche der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts - mit einem Kernbereich zwischen 1830/40 und 1880/90 - vor allem in Frankreich, England, Deutschland und Russland zu verwenden. Gattungspoetisch steht die erzählende Prosaliteratur, besonders in den Formen des Romans, der Novelle und der Erzählung, ganz eindeutig im Zentrum: sie erscheinen als besonders "welthaltig". Maßgebliche Autoren, die diesem Epochenbegriff Realismus und einer "realistischen" Erzählweise Profil gegeben haben, sind etwa Honoré de Balzac, Stendhal und Gustave Flaubert in Frankreich, Charles Dickens in England, Theodor Fontane, Theodor Storm, Wilhelm Raabe und Gottfried Keller in Deutschland bzw. der deutschsprachigen Schweiz, Lev N. Tolstoj und Fjodor M. Dostojevskij in Russland. Die stärksten Impulse für den Realismus des 19. Jahrhunderts, aber auch für das Weltbild und die Schreibweise der nachfolgenden Generationen ging dabei von den französischen und russischen Autoren aus.

Unter dem Eindruck der im 19. Jahrhundert stark anwachsenden Autorität der Naturwissenschaften sowie neuer kritischer Gesellschaftstheorien als Ausdruck bürgerlichen Krisenbewusstseins entwickeln sich wesentliche Kennzeichen dieser Literaturepoche im Rahmen und in Abhängigkeit von unterschiedlichen nationalliterarischen Traditionen. Die erzählerische Entfaltung und Analyse sozialer Probleme der sich entfaltenden kapitalistischen Wirtschaftsform und Lebensweise sowie der daraus sich ergebenden moralischen und individuellen Konflikte sind das innovative Zentrum der Literatur dieser Zeit. Die schärfsten sozialanalytischen und gesellschaftskritischen Positionen vertreten sicherlich die französischen Realisten, während die deutschsprachigen Autoren offensichtlich unter dem Eindruck eines Synthese-Modells von Idealismus und Realismus (wie es in anderem Zusammenhang bereits im Briefwechsel Goethes und Schillers erörtert wurde) nach einem "poetischen Realismus" suchen, der die Verbindung von Wirklichkeit und Ideal ermöglichen soll. Deshalb gestaltet sich auch der Übergang zur nächsten literarischen Epoche, dem Naturalismus, in beiden Ländern unterschiedlich: in Frankreich als Fortführung und Verschärfung des realistischen Konzepts, in Deutschland dagegen als deutlicher Bruch mit dem "poetischen Realismus" zugunsten einer an den Naturwissenschaften orientierten Objektivität, die die Subjektivität des künstlerischen Schaffens in Frage stellt.

© HJ

Sekundärliteratur

  • H. Aust: Literatur des Realismus. 3. Aufl., Stuttgart u.a. 2000.
  • S. Kohl: Realismus. Theorie und Geschichte, München 1977.
  • G. Plumpe: Realismus in Literatur und Kunst, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter / K. Gründer, Bd. 8, Basel 1992, Sp.169ff.