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Antike Tragödie

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Von der antiken Tragödie sind uns nur noch "Überreste" bekannt: die vielen Theaterruinen rund um das Mittelmeer und eine Hand voll erhaltener Stücke und Fragmente. Aber auch wenn kaum zu überschätzen ist, was über die Jahrtausende verloren gegangen ist, haben wir dennoch einen recht guten Einblick in das damalige Theaterwesen. Denn die antike Tragödie schlechthin - und darin waren sich bereits die Zeitgenossen im Altertum einig - war die Hervorbringung einer relativ kurzen Zeitspanne und eines einzigen Ortes: sie entstand im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. Die drei nach den spärlichen Zeugnissen der Zeitgenossen herausragenden Tragödiendichter, Aischylos, Sophokles und Euripides, wurden rasch kanonisiert und als Vorbilder anerkannt. Mit dem Tod des Sophokles und dem Niedergang Athens nach der Niederlage im Peloponnesischen Krieg endet die Geschichte der antiken Tragödie, zumindest unter produktivem Aspekt, fast schon wieder.

Ihre Herkunft hat die Tragödie aus dem Dionysoskult. Zu den beiden großen Feiertagen dieses Gottes wurden im Januar/Februar (sog. Lenäen) und im März/April (sog. Große Dionysien) die Tragödien aufgeführt. Auch wenn die Bindung an den Gott Dionysos bald verloren ging, blieben doch einige Merkmale des Kultus erhalten: Die Verwendung von Masken und Verkleidungen, der Einsatz eines Chores und vor allem die Bedeutung von Musik, Gesang und Tanz. Tragödien waren ursprünglich auf eine einmalige Aufführung angelegt. Sie stellten eine Mischung dar aus gesprochenen Dialogen zwischen den Schauspielern, aber auch zwischen Schauspielern und Chor, aus Rezitativen und Gesangspartien, aber auch aus immer komplexeren Tanz- und Gesangseinlagen. Der Wettbewerbscharakter der Aufführungen stammt ebenfalls aus der kultischen Tradition: Die Dichter traten mit jeweils drei Tragödien und einem Satyrspiel (einer Art heiterem Ausklang nach den sehr emotional wirkenden menschlichen Abgründen der Tragödien) gegeneinander im sogenannten Agon (Wettkampf) an.

Neben die kultische Bedeutung der Tragödienaufführung tritt von Anfang an auch ihre "politische" - im ursprünglichen Wortsinn: "die gesamte Polis betreffend". Sie wurde unter der Tyrannenherrschaft eingeführt zu Zwecken der Repräsentation, aber auch der Zentralisierung und Domestizierung des auf Ekstase angelegten und damit bedrohlichen Kultus. Während der Hegemonie Athens im Attischen Seebund dienten die prunkvollen Feierlichkeiten der Machtdemonstration vor den Verbündeten und der Selbstfeier der Metropole. Wichtiger aber war die Tragödie als Produkt der gesamten Polis. Einfache Bürger traten in den Chören auf, einzelne Verwaltungsbezirke (Phylen) stritten miteinander um die Gunst der Preisrichter. Reiche Bürger finanzierten die Aufführungen, und nach den Festspielen wurde vor der Volksversammlung Rechenschaft über Verlauf und Finanzierung abgelegt. Auch die inhaltliche Gestaltung hatte einen politische Bedeutung, wenn auch keine tagespolitischen Bezüge wie die ebenfalls an den Festtagen aufgeführten Komödien: In den dramatisch vorgeführten Mythen verhandelte die Polis grundlegende Fragen ihres Selbstverständnisses; aktuelle Anspielungen fanden sich seltener. (Im Rom der Kaiserzeit wurde die Darstellung des Tyrannenmordes wegen ihrer politischer Implikationen dagegen verboten.) Die Bedeutung des Dichterworts übertraf im 5. Jh. die der Philosophen.

Mit dem Bedeutungsverlust Athens verliert auch die Tragödie ihre herausragende Stellung. Bereits im 4. Jh. gilt sie als bloßes Unterhaltungsstück ohne innere Beteiligung der Zuschauer. Das gilt auch für den spätantiken Hellenismus, an den die lateinisch verfassten Tragödien anschließen. Denn im antiken Rom ist das Theater nur noch Ort der Zerstreuung und der Repräsentation, in der Kaiserzeit werden Tragödien kaum mehr aufgeführt; allenfalls ausgewählte Szenen und "Bravourarien" kommen in einer frühen Variante des Starkults zur Aufführung.

Eine gewisse Sonderstellung innerhalb der römische Tragödie nimmt allerdings Lucius Annaeus Seneca ein (ca. 4 v. - 65 n. Chr.), dessen Stücke zwar vermutlich nicht aufgeführt, aber doch eifrig gelesen wurden. Sie dienen in erster Linie der Exposition seiner stoischen Philosophie und ihrer Tugendideale. Deshalb und auch wegen ihrer Betonung der inneren Vorgänge der Figuren werden sie im Mittelalter und in der Renaissance stark rezipiert und stilbildend für die Tragödien der Französischen Klassik wie auch für die "Trauerspiele" des deutschen Barock, insbesondere bei Andreas Gryphius.

© JK

Sekundärliteratur

  • M. Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 1, Stuttgart u.a. 1993.
  • J. Latacz: Einführung in die griechische Tragödie, 2. Aufl., Göttingen 2003.
  • B. Zimmermann: Die griechische Tragödie. Eine Einführung, 2. Aufl., München u.a. 1992.