Startseite Inhalt

Positivismus

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

Der Positivismus geht zurück auf Auguste Comte (1798-1857). Er formulierte die philosophische Prämisse, daß als Basis für wissenschaftliche Erkenntnis nur Tatsachen zugelassen sind. Unter Tatsachen versteht er wirklich Gegebenes, das man objektiv erkennen kann. Diese wissenschaftliche Vorgehensweise hat ihren Zielpunkt in der Aufstellung von Theorien, Gesetzen und Hypothesen. Hier findet eine methodische Angleichung der Kultur- und Geisteswissenschaften an die Naturwissenschaften statt. Das Kulturelle und Geistige wird als von der Natur abhängig begriffen und deswegen mit den Mitteln der Naturwissenschaft, diesem "Triumphator auf dem Siegeswagen", wie Wilhelm Scherer es ausdrückt, untersucht.

Als Hauptvertreter des literaturwissenschaftlichen Positivismus in Deutschland sieht Scherer im späten 19. Jahrhundert die Literatur als Produkt individueller und gesellschaftlicher Gegebenheiten an. Die Werke sind keine in Freiheit entstandenen literarischen Produkte, sondern sind gesellschaftlich und biographisch determiniert. Dieser Gedanke hat in seiner berühmten Formel vom "Erlebten, Erlernten und Ererbten" seinen Niederschlag gefunden. Es geht also um die Erforschung der Bildungs-, Stoff-, Ideen und Formerlebnisse (Erlebtes) des Autors, um die Aufdeckung seiner Bildungsgeschichte (Erlerntes) und um die historische Situation in der er lebt, um ihre Gegenwart und ihre Wurzeln. Aufgrund dieser Materialbasis können einzelne Erscheinungen im literarischen Werk erklärt werden. Es gibt eine eindeutige Kausalbeziehung zwischen Ursache ("Erlebtem, Erlerntem, Ererbtem") und Wirkung (Kunstwerk). Der französische Kritiker Hyppolite Taine formuliert den daraus resultierenden Auftrag für den Philologen in seiner Philosophie der Kunst wie folgt: "Die Kunstwerke [sind] als Erzeugnisse und Tatsachen anzusehen, deren Wesen zu bestimmen und deren Ursachen zu erforschen sind."

Die von Scherer und seinen Schülern (u.a. Richard Heinzel, Richard Meyer, Franz Muncker, Erich Schmidt) betriebene positivistische Literaturwissenschaft beschäftigte sich demzufolge vornehmlich mit Autorenbiographien sowie der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von literarischen Texten. Um eine positive Materialbasis für ihre Untersuchungen zu schaffen, entstanden im Umfeld dieser literaturwissenschaftlichen Methode historisch-kritische Texteditionen (Herder, Goethe, Schiller, Kleist), faktenreiche Dichterbiographien (F. Muncker, E. Schmidt, R. Haym, J. Minor) und Stoff- und Motivgeschichten.

In die Kritik geriet der Positivismus u.a. aus der Perspektive der Hermeneutik. Mit seiner Konzentration auf das biographische und auf das Ursache-Wirkungs-Prinzip, das nur Ausschnitte des Werkes erhellt, gehe der Werkzusammenhang verloren. Auch die moderne Literaturwissenschaft grenzt sich vom historischen Positivismus ab. Er begebe sich in eine Sackgasse, wenn er nur die Beziehungen zwischen Autor und Gesellschaft auf der einen, dem Werk auf der anderen Seite sieht. Der sogenannte Biographismus., die Erklärung des Werkes aus der Biographie des Autors, gilt seit längerem als überholt. Hier bleibt nicht nur der Text als Ganzes, seine Motive, Themen und ihre Traditionen, sondern auch der Leser vollkommen außerhalb des Blickfelds.

Trotz dieser Kritik am historischen Positivismus gibt es einige neopositivistische Methoden, die dem Faktischen bei der Literaturbetrachtung einen breiten Raum geben. Als Beispiele wären derzeit bestimmte Strömungen der Literatursoziologie und der Medientheorie zu nennen.

©rein