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Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Michail Lesskows (1936/37)

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Die Beiträge Walter Benjamins zur Poetik und Theorie des Romans sind in literaturkritischen Arbeiten etwa zu Franz Kafka, Marcel Proust oder Alfred Döblin sowie in seinem Essay Der Erzähler von 1936/37 enthalten. Darin verbindet er ein Porträt des russischen Novellisten Michail Lesskow mit sehr weitreichenden Reflexionen über die historische Transformation und den aktuellen Status des Erzählens. Dabei schließt er grundsätzlich an Hegels Historisierung der epischen Gattung und - direkt zitierend - an Georg Lukács' Theorie des Romans (1916) an. Eine eigenständige und bis heute anregende Position wird aber unter den folgenden Gesichtspunkten deutlich.

Zunächst geht er nicht wie Hegel vom Epos aus, sondern von der vielgestaltigen mündlichen Erzählpraxis in traditionalen Gesellschaften (Märchen, Sage, Sprichwort, Schwank, Witz), die er wesentlich als Medium für den Ausdruck und Austausch von sozialer Erfahrung ansieht. Methodisch führt er, ohne diese Begriffe zu verwenden, damit den Gegensatz von Oralität (Mündlichkeit) und Literalität (Schriftlichkeit) ein. Der mündliche Erzähler ist für Benjamin schlichtweg "ein Mann, der dem Hörer Rat weiß". Mit der Mitteilbarkeit der Erfahrung gerät in der modernen Gesellschaft aber auch die traditionelle Kunst des Erzählens in eine Funktionskrise. Die Erfindung der Buchdruckerkunst macht sodann ein neues, spezifisch modernes Erzählen und die Ausbreitung des Romans erst möglich. Seine massenhafte Verbreitung bedeutet aber nicht, daß er in kollektiver Erfahrung wurzelt. Ganz im Gegenteil - und im Sinne von Lukács: "Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann. Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze treiben. Mitten in der Fülle des Lebens und durch die Darstellung dieser Fülle bekundet der Roman die tiefe Ratlosigkeit des Lebenden." (Der Erzähler, S. 443)

Schließlich glaubt Benjamin zeigen zu können, daß das historisch neue System der Information und Zerstreuung, also der modernen Massenkommunikation, den Roman seinerseits einer Krise zuführt. Benjamin spricht im Blick aufs ausgehende 19. Jahrhundert von der Presse; aber wir dürfen durchaus auch an Massenmedien wie Rundfunk, Film und Fernsehen denken. Ob der Roman als literarische Form dieser neuen Medienkonkurrenz wird trotzen können, ist für Benjamin noch nicht entschieden. Anhand von Proust, Kafka und Döblin diskutiert er ganz unterschiedliche Strategien der Krisenüberwindung: die subjektivistische Vertiefung (Proust), die Rückwendung auf mündliche Formen wie Rätsel und Gleichnis (Kafka) und die Öffnung des Romans für ein filmisches Verfahren (Döblin): "Die Montage sprengt den 'Roman', sprengt ihn im Aufbau wie auch stilistisch, und eröffnet neue, sehr epische Möglichkeiten." (Krisis des Romans, S. 232)

© JV

Quelle

  • Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II, 2, Frankfurt/M. 1977, S. 438-465.
  • Walter Benjamin: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, ebd., S. 409-438.
  • Walter Benjamin: Krisis des Romans. Zu Döblins "Berlin Alexanderplatz", in: Gesammelte Schriften, Bd. III, Frankfurt/M. 1972, S. 230-236.

Sekundärliteratur

  • J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, 7. Aufl., Opladen 1990, Kap. V.
  • B. Witte: Walter Benjamin, Reinbek bei Hamburg 1985.
  • I. Wohlfarth: Krise des Erzähelns, Krise der Erzähltheorie. Überlegungen zu Lukács, Benjamin und Jauá, in: R. Kloepfer / G. Janetzke-Dillner (Hg.): Erzählung und Erzählforschung, Stuttgart 1981, S. 281-288.