Zeitstruktur (nach G. Genette)

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Es herrscht weitgehende Übereinstimmung darüber, daß der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette das bislang differenzierteste und komplexeste Analysemodell für die Zeitstrukturen in erzählenden Texten vorgelegt hat. Genette (geb. 1930) unterrichtet seit den 1960er Jahren an der Sorbonne und der École des Hautes Études in Paris französische Literatur. Seine für die Erzählforschung wichtigsten Bücher heißen Discours du récit (1972) und Nouveau discours du récit (1983). In deutscher Übersetzung sind beide Texte zusammengefaßt unter dem Titel Die Erzählung (hg. von Jochen Vogt) 1994 erschienen.

Genettes Terminologie mutet auf den ersten Blick sehr ungewohnt und schwierig an, fast muß man sie wie eine Fremdsprache lernen. Weil seine Begriffe aber außerordentlich präzise sind, haben sie sich in der internationalen Erzählforschung durchgesetzt.

Genette unterscheidet drei für die Erzähltextanalyse wichtige Aspekte: Die 'histoire' (Geschichte) bezeichnet die Folge von Ereignissen, die Gegenstand des 'récit' (der Erzählung) sind. (vgl. histoire und discours). Hinzu kommt die 'narration' (Narration oder der Akt des Erzählens). Für die Analyse der Zeitstruktur der Erzählung sind vor allem die ersten beiden Aspekte von Bedeutung. Ihr Verhältnis wird unter den drei Kategorien 'Ordnung', 'Frequenz' und 'Dauer' genauer untersucht.

Unter 'Ordnung' versteht Genette das Verhältnis zwischen der "realen" Anordnung der Ereignisse in der 'histoire' und ihrem Erscheinen im 'récit'. (vgl. Erzählzeit und erzählte Zeit) Wird der Ablauf der Ereignisse umgestellt und nicht chronologisch-linear erzählt, spricht Genette von 'Anachronien'. (vgl. Rückwendungen und Vorausdeutungen)

Die Analepse (bei Lämmert 'Rückwendung') wird definiert als "nachträgliche Erwähnung eines Ereignisses, das innerhalb der Geschichte zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat" (Genette, S. 25). Bestimmt man eine 'Basiserzählung' (récit premier) mit Anfang und Ende, so kann man die Analepsen entsprechend ihrer Reichweite in 'externe' und 'interne' unterteilen.
Die externe Analepse erzählt Ereignisse, die vor Beginn der 'Basiserzählung' liegen. Es besteht also keine Gefahr, daß sich die 'Analepse' und die 'Basiserzählung' überschneiden. Die interne Analepse hingegen füllt Lücken innerhalb der 'Basiserzählung' auf. Hier kann es dazu kommen, daß ein Ereignis ein zweites Mal (meist aus einer anderen Perspektive oder mit einer anderen Intention) erzählt wird. Reicht ein 'analeptischer' Nachtrag bis zu dem Zeitpunkt in der 'Basiserzählung' heran, an dem die Erzählung unterbrochen worden war, spricht Genette von einer kompletten Analepse. Ist das nicht der Fall und endet die Erzählung vergangener Ereignisse in einer Ellipse, handelt es sich um eine partielle Analepse. Mit 'partiell' und 'komplett' bezeichnet Genette den 'Umfang' einer 'analeptischen' Erzählung.

Analoges gilt für die zweite Form der 'Anachronien', die Prolepse (bei Lämmert: 'Vorausdeutung'). Sie wird dadurch definiert, "ein späteres Ereignis im voraus zu erzählen oder zu evozieren" (S. 25). Auch hier kann wieder nach der 'Reichweite' ('extern' oder 'intern') sowie nach dem 'Umfang' ('komplett' oder 'partiell') unterschieden werden. Die interne Prolepse (also eine 'Vorausdeutung', die den zeitlichen Rahmen der 'Basiserzählung' nicht überschreitet) kann zum einen als 'Vorgriff' auftreten (die explizite Ankündigung eines späteren Ereignisses), zum anderen als 'Vorhalt' (eine ungewisse Antizipation, die Erwartungen weckt, sich aber erst bei der weiteren Lektüre als Vorankündigung erschließt).

Wie im Fall der 'internen Analepsen und Prolepsen' zu sehen war, kann ein Ereignis, das auf der Ebene der 'histoire' stattfindet, durchaus zwei- oder mehrmals erzählt werden. Diesen Sachverhalt untersucht Genette unter dem Stichwort 'Frequenz'. Dabei differenziert er zwischen 'singulativem' Erzählen (was einmal geschieht, wird einmal erzählt), 'repetitivem' Erzählen (was einmal geschieht, wird n-mal erzählt) und 'iterativem' Erzählen (was n-mal geschieht, wird einmal erzählt).

Mit der 'Dauer', der letzten Kategorie der Zeitanalyse, setzt Genette die Zeit, die ein Ereignis in der 'histoire' einnimmt, ins Verhältnis zu dem Raum, den die Erzählung des Ereignisses im Text beansprucht. Dieses Verhältnis nennt er 'Erzählgeschwindigkeit'. Die verschiedenen Geschwindigkeiten in einem Text sind verantwortlich für Rhythmuseffekte. (vgl. Erzählzeit und erzählte Zeit) Im einzelnen unterscheidet er vier narrative Geschwindigkeiten:

Im 'summary' (1) wird viel 'histoire' (Geschichte) bei relativ wenig Text erzählt. Es ist den Zeitraffungen vergleichbar. Natürlich gibt es innerhalb des 'summary' verschiedene Raffungsintensitäten.
Als 'Szene' (2) bezeichnet er zeitdeckendes Erzählen, wie man es in Dialogen, tendenziell im Drama vorfindet. Die Zeit der 'histoire' (Geschichte) entspricht in etwa der Länge des 'récit' (Erzählung).

In der 'Ellipse' (3) kann unendlich viel Geschichte in unendlich wenig Erzählung Platz finden. Was Lämmert mit 'Aussparung' bezeichnet, wird bei Genette genauer differenziert: Die 'Ellipse' kann 'bestimmt' (die ausgelassene Zeitspanne wird angegeben, z.B.: drei Jahre später) oder 'unbestimmt' (es wird keine genaue Zeitangabe geliefert, z.B.: lange Jahre vergingen) sein. Des weiteren kann sie ´explizit´ sein, d.h. angekündigt werden (z.B.: Hier bitten wir um Erlaubnis, einen Zeitraum von drei Jahren überspringen zu dürfen, ohne ein Wort darüber zu verlieren ...). Oder aber sie kann 'implizit', ohne Ankündigung stehen. Das ist typischerweise der Fall bei Kapitelübergängen, Absätzen oder auch der Leerzeile, dem sogenannten 'blanc'. Hier wird Zeit übersprungen, ohne daß es dem Leser ausdrücklich mitgeteilt wird.

Bei der 'deskriptiven Pause' (4) schließlich wird der Fortgang der Geschichte gleichsam angehalten, um eine Beschreibung oder einen Kommentar einzufügen. Hier kann tendenziell unendlich viel Text der Erzählung ('récit') mit unendlich wenig Geschichte zusammenfallen.

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