Startseite Inhalt

Französische Klassik (Siècle classique / doctrine classique)

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

Als "siècle classique" (klassisches Jahrhundert) wird in Frankreich das 17. Jahrhundert bezeichnet, in dem Kunst und Kultur in beeindruckender Blüte standen. Der Hof Ludwigs XIV. (1638-1715), der sich gern als Sonnenkönig und Nachfahr der antiken römischen Herrscher sah, genoß in ganz Europa hohes Ansehen und galt als nachahmenswert. Seinen gewaltigen politischen, aber auch kulturellen Einfluß verdankte er vor allem der frühen nationalstaatlichen Einigung. Die Kardinäle Richelieu (1585-1642) und Mazarin (1602-1661), die für Ludwig XIII. und den bis 1661 noch unmündigen Ludwig XIV. die Staatsgeschäfte lenkten, bereiteten den Weg zu einer zentral organisierten (und überwachten) absoluten Monarchie. Neben der Ausschaltung ihrer Feinde durch die Niederschlagung der sogenannten Parlaments- und Adelsaufstände ("Fronde") spielte die Kunst und insbesondere das Theater dabei zumindest für Richelieu eine bedeutende Rolle.

Die Bühne galt ihm als ein Medium der Propaganda, das mit seinen Stücken eine Ideologie der Ordnung zu etablieren und bewahren hatte. Aus diesem Grund hob er gesetzlich sogar die lange Zeit staatlich sanktionierte soziale Diskriminierung des Schauspielerberufes auf. Klarheit im Ausdruck und Eindeutigkeit in der Wirkung hießen die erklärten Ziele dieser Kunstpolitik.

Die als "doctrine classique" (klassische Kunstlehre) zusammengefaßten Normen sind beispielhaft in Nicolas Boileaus Werk Art poétique von 1674 versammelt. Diese aus der Antike abgeleiteten Dichtungsregeln schreiben dem Drama die berühmten drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung vor (von denen sich bei Aristoteles nur die der Zeit findet). Die dargestellte Handlung hat den Gesetzen der "vraisemblance", der Wahrscheinlichkeit, zu genügen und die Natur nachzubilden - freilich eine von allem Häßlichen und Unedlen gereinigte und somit stilisierte Natur. Auch die Sprache sollte dem als "bon usage" kodifizierten sogenannten "guten Gebrauch" entsprechen. Hinter dem Gebot der "bienséance" verbirgt sich die Forderung nach Darstellung dessen, was vor allem die höfische Gesellschaft im 17. Jahrhundert als angemessen und "schicklich" empfand. Gemeinsam mit gehobenen bürgerlichen Schichten - Kaufleuten, Händlern, Beamten und Gelehrten - bildete der politisch vom Monarchen domestizierte Adel das Publikum dieser Kunst ("le cour et la ville": der Hof und die Stadt). Wichtig war vor allem ihre angestrebte Wirkung: Vergnügen am Dargestellten und Rührung über die miterlebten Schicksale sollten eine sittlichen Besserung bewirken und das Theater zur Schule der "honnêteté" (Rechtschaffenheit, Anständigkeit) umfunktionieren.

Insgesamt handelt es sich also um eine ungemein restriktive Regelpoetik, die zudem einem politischen Kalkül folgte. Dennoch hat der französische Schriftsteller Paul Valéry durchaus Recht, wenn er in diesen Vorschriften auch etwas Positives sehen möchte. Das Wesentliche an der Regel, sagt Valéry, sei ihr Widerstand. Erst die produktive Reibung an diesem Widerstand hat die Werke von Corneille, Racine oder Molière entstehen lassen und sie zu den französischen Klassikern des 17. Jahrhunderts gemacht.

Sekundärliteratur

  • F. Nies, K. Stierle (Hg.): Französische Klassik. Theorie. Literatur. Malerei, München 1985.
  • R. Bray: La formation de la doctrine classique en France, Paris 1983. (zuerst 1927)