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Jahrhundertwende

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Welche Jahrhundertwende? Natürlich die vom 19. zum 20. Jahrhundert! Aber warum wird ein kalendarischer Begriff (und noch dazu ein nicht ganz eindeutiger) zur Bezeichnung einer literarischen Epoche verwendet? Offensichtlich, weil die Zeit der homogenen Epochenstile in der deutschsprachigen Literatur endgültig vorüber ist. Schon der kurzlebige Naturalismus der 1890er Jahre drückt nur noch eine literarische Perspektive unter anderen aus. Und in den Jahren um 1900 zeigt die deutschsprachige Literaturszene unübersehbar eine bis dahin ungekannte Pluralität der Stilrichtungen. Ein Anfänger von damals, Thomas Mann, hat dies später rückblickend beschrieben: "Merkwürdig genug: der Naturalismus war an der Tagesordnung, und Gerhart Hauptmann galt als sein Fahnenträger [...] die geisterhaften Suggestionen der späten Ibsen-Stücke waren da; die vom französischen Parnaß herstammende, esoterische Spracherneuerung Stefan Georges [...]; die kulturgesättigte [....], wienerisch-mürbe Kunst Hugo von Hofmannsthals; der pathetisch-moralisierende Sexual-Zirkus Frank Wedekinds; Rilke und sein so neuer, so verführerischer lyrischer Laut, all das behauptete Gleichzeitigkeit, war Willensausdruck dieser sehr reich bewegten Zeit [...]." Und das Bild wird noch vielfältiger, wenn man z.B. die damals so erfolgreiche, zivilisationskritische "Heimatkunstbewegung" hinzunimmt, oder die Tradition der proletarischen Literatur, oder die beiden großbürgerlichen Jungautoren Thomas und Heinrich Mann, oder auch einen Zeitgenossen wie Karl May...

Zu konstatieren ist, dass die Literatur dieser Jahre weder eine einheitliche Weltsicht noch eine gemeinsame Sprache besitzt; das kann man sehr allgemein als fortschreitende Differenzierung erklären, wie sie für alle Bereiche moderner Gesellschaften kennzeichnend ist. Eine spezifischere Erklärung könnte darauf abheben, daß all die genannten Autoren und literarischen Strömungen sich in einer kritischen Spannung und Distanz zur Realität des wilhelminischen (oder auch habsburgischen) Kaiserreichs befinden und sie auf die eine oder andere Weise auch artikulieren. Dabei geht es an der Oberfläche gegen die geistfeindliche, autoritäre und waffenstarrende Fassade des Kaiserreichs, in der Tiefenstruktur aber gegen den gerade um 1900 kulminierenden Prozeß der ökonomischen, industriellen und technologischen Modernisierung, der Entwicklung zum Finanz- und Monopolkapitalismus. Damit geraten die Künstler, die sich bislang noch als Repräsentanten des gesellschaftlichen Ganzen fühlen durften, endgültig ins Abseits, sie werden - auf jeweils verschiedene Art - zum "Opponenten der Gesellschaft, zu ihrem Außenseiter" (Hans Schwerte). Als Abgrenzungs- und Kampfbegriff für die meisten dieser Tendenzen gewinnt der - aus dem französischen Symbolismus übernommene - Begriff der "Moderne" an Faszinationskraft. (Die künstlerische "Modernität" war insofern, auch wenn das heute seltsam klingt, Gegenprogramm zur gesellschaftlichen "Modernisierung".)

Der "Stilpluralismus" der Jahrhundertwende (Viktor Zmegac) ist insofern nicht nur ein ästhetisches Oberflächenphänomen, sondern Resultat eines grundsätzlich neuen, sagen wir ruhig: modernen Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft. Die Literatur wird hier auf bisher ungekannte Weise mit ihrer eigenen Machtlosigkeit angesichts der harten gesellschaftlichen Tatsachen konfrontiert - und reagiert darauf mit experimenteller Pluralisierung. Eben dies macht die Literatur der Jahrhundertwende um 1900 auch und gerade für die Beobachter an der Jahrhundertwende von 2000 zu einem faszinierenden und vielleicht lehrreichen Gegenstand.

©JV

Sekundärliteratur

  • H. Kaufmann: Krisen und Wandlungen der deutschen Literatur von Wedekind bis Feuchtwanger, Berlin u.a. 1976.
  • E. Schütz / J. Vogt u.a.: Einführung in die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 1: Kaiserreich, Opladen 1977.
  • V. Zmegac: Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, Hanstein 1981.