Oral Poetry

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engl.: mündliche Dichtung

Oral Poetry bezeichnet eine 'literarische' Tradition und die dazugehörende Forschungsrichtung. Untersucht werden Erzähllieder, das mündliche Epos sowie teilweise improvisierte Gesänge in schriftlosen und teilliteralen Kulturen. Von Interesse sind charakteristische Themen und Inhalte, Formen und Strukturen sowie die gesellschaftliche Funktion ihrer Tradierung. Die von Milram Parry im 19. Jahrhundert anhand von Homers Epen Ilias und Odyssee entwickelten Charakteristika konnten später von seinem Schüler Lord empirisch an noch existierenden Gesangskulturen bestätigt werden. Dabei handelt es sich um extrem formelhaftes Erzählen mit festem Handlungsgerüst, die unvermittelte Darstellung der Geschichte ohne zusätzlich eingebaute Erzählerfiktionen, markante und zugleich konstant bleibende Heldenfiguren, stereotype Beschreibungsmuster (Topoi), häufige Wiederholungen, einfache Melodienmodelle sowie bestimmte metrische Formen.

Auch die Themen - Heldenschicksal, Brautwerbung, Abenteuer, metaphysische Begegnungen und kultische Anlässe - sind sowohl in anonymen Texten wie Nibelungenlied und Beowulf als auch bei slawischen, griechischen, finnischen, türkischen und estischen Völkern zu finden. Ähnliches läßt sich über die mündliche Dichtung in Afrika, Ozeanien, Südamerika und Asien sagen.

Die hier genannten Merkmale dürfen nicht als schmückendes Beiwerk verstanden werden: Sie dienen in erster Linie dazu, die traditionsstiftenden Inhalte, welche sowohl dem Vortragenden wie auch seinen Zuhörern bekannt gewesen sind, über Generationen hinweg im Gedächtnis behalten zu können. Dennoch ist mündliche Dichtung von einem Nebeneinander gleichberechtigter mündlicher Fassungen geprägt.

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Sekundärliteratur