Startseite Inhalt

Hermeneutische Differenz

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

Der Ausdruck  hermeneutische Differenz oder auch Distanz macht auf ein Grundproblem aller sprachlichen Kommunikation wie auch der reflektierten Interpretation aufmerksam: Das was verstanden bzw. gedeutet werden soll, ist zunächst fremd, abständig, distanziert, und muß erst im Verstehens- bzw. Deutungsakt angeeignet werden.

Dabei sind graduelle Unterschiede sehr erheblich: In der eingelebten Alltagskommunikation wird die hermeneutische Differenz nicht oder nur punktuell, im Falle einer Störung bewußt. Deshalb ist, wie schon der Philosoph Schleiermacher bemerkte, bei "Wettergesprächen" in der Regel keine Hermeneutik nötig (die Differenz gleich Null). Am anderen Extrem ist keine Hermeneutik möglich, wo die Differenz unendlich wird: etwa bei einer Äußerung in einer mir völlig unbekannten Sprache. Hermeneutik findet demnach, einer berühmten Formulierung von Hans-Georg Gadamer folgend, "zwischen Fremdheit und Vertrautheit" statt: "In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik." (S. 279)

In literaturwissenschaftlicher Sicht sind drei verschiedene Varianten oder Komponenten der hermeneutischen Differenz von besonderem Gewicht.:

Zunächst die linguistische Differenz: Verstehen und Auslegung setzten die Zugehörigkeit zur Sprachgemeinschaft der jeweiligen Äußerung bzw. die spezifische Sprachkompetenz voraus. Deshalb ist die Übersetzung von Werken in eine andere Sprache einerseits Voraussetzung der Interpretation, aber auch selbst schon ein interpretierender Akt.

Sodann die historische Differenz. Sie gerät oft als erste in den Blick und bringt erhebliche Schwierigkeiten für Textverständnis und Interpretation dar: Jeder einmal fixierte Text altert unaufhaltsam - die historische Differenz zwischen ihm und dem (gegenwärtigen) Interpreten wächst also. Verständnisschwierigkeiten entstehen in sprachlicher Hinsicht (z. B. veraltete Wörter und Ausdrucksformen, Bedeutungsveränderungen) wie in sachlicher (z.B. erklärungsbedürftige Fakten, Namen, Zusammenhänge). Diese Erklärungen bereitzustellen ist traditionell Aufgabe des philologischen Kommentars.

Schließlich ist, besonders für die literaturwissenschaftliche Hermeneutik, auch eine poetologisch/rhetorische Differenz zum üblichen Sprachgebrauch relevant: die Tatsache also, daß besonders (aber nicht nur) dichterische Texte 'künstliche' Ausdrucksformen, z. B. rhetorische Mitteln benutzen. Deren Funktion und Bedeutungspotential muß erkennen, wer den Text verstehen und angemessen interpretieren will.

Vielfach spielen diese Differenz-Komponenten ineinander: So muß etwa der Text der Bibel aus dem Hebräischen bzw. Griechischen ins Deutsche übersetzt werden, um dort zur Textgrundlage einer theologischen Hermeneutik zu werden, die dann auch die inhaltlichen Verstehensprobleme bearbeiten kann und eine spezifisch protestantische Auslegung ermöglichen. Dabei sind auch die sprachlichen, peotologischen und rhethorischen Mittel des Textes zu beachten. So benutzt etwa das biblische Hohe Lied eine ausgeprägte erotische Metaphorik, die jedoch auf religiöse Sachverhalte verweist und deshalb angemessen ausgelegt werden muß.

Wilhelm Dilthey glaubte noch, in einem Akt der Einfühlung die hermeneutische Differenz überspringen und unmittelbares Verstehen gewinnen zu könnnen. Seit Gadamer hat sich jedoch eine Auffassung durchgesetzt, die den "Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens" nutzbar zu machen und "immer auch [...] die geschichtliche Situation des Interpreten" zu reflektieren (S. 280 f.). Die Einsicht in diese historische Gebundenheit nicht nur des zu verstehenden Textes, sondern auch des jeweiligen Verstehens selbst öffnet - Gadamer zufolge - die Dimension der Wirkungsgeschichte.

© JV

Quelle

  • Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3. Aufl. Tübingen 1972.