Jacob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. Eine Kömödie (1774)

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Lenz' erstes großes Drama, 1771/72 in Straßburg geschrieben und 1774 auf Vermittlung Goethes anonym in Leipzig gedruckt, irritiert und fasziniert bis heute aufgrund seiner mehrsträngigen, durch Raum- und Zeitsprünge zerklüfteten Handlung, seiner gebrochenen Charaktere und seines vielschichtigen Problemgehalts.

Im ostpreußischen Insterburg erziehen die beiden in Weltsicht und Lebensstil ungleichen adligen Brüder von Berg, der aufgeklärt räsonnierende Geheime Rat und der auf seinem Landgut Heidelbrunn mit seiner dünkelhaften Frau lebende, zugleich polternde und melancholische Major, ihre Kinder nach verschiedenen Maximen. Der Geheime Rat hat seinen Sohn Fritz die öffentliche Schule besuchen lassen, der Major engagiert einen sich zu einem Hungerlohn verdingenden Kandidaten der Theologie namens Läuffer als Hofmeister, also als Hauslehrer, für den Knaben und das heranwachsende Gustchen. Die ungleich traktierten Zöglinge Fritz und Gustchen sind jedoch in heimlicher Liebe verbunden und schwören einander, als Fritz zum Studium nach Halle aufbricht, in Romeo-und-Julia-Attitüde ewige Treue und spätere Heirat. Doch in der sich nun verzweigenden Handlung geraten beide in neue Komplikationen. Der treuherzige Fritz wird in der rauhen Luft des Studenten-Millieus von Halle und Leipzig ein Opfer sowohl seines leichtsinnigen Freundes Pätus, für den er in Schuldhaft geht, als auch des intriganten Seiffenblase, der ihn bei seinem Vater verleumdet, und versäumt darüber, Gustchen die versprochenen heimlichen Briefe zu schreiben. Das in Heidelbrunn vereinsamte schwerblütig-lesewütige Gustchen wähnt sich von Fritz verlassen und läßt sich auf ein Verhältnis mit Läuffer ein. Beide werden von der Majorin in flagranti ertappt und fliehen getrennt aufs Land, ohne einander wiederzusehen. Damit separiert sich aus der Gustchen-Handlung als dritter Strang die Läuffer-Handlung. Läuffer nämlich findet Unterschlupf bei dem schrulligen Dorfschullehrer Wenzeslaus, der ihm mit einem krausen, theologisch-diätetischen Katechismus zur Unterdrückung des Sexualtriebs ins Gewissen redet. Derweil hat Gustchen in einer Waldhütte bei einer blinden Alten namens Marthe ein Kind zur Welt gebracht und macht sich gleich nach der Geburt, das Kind bei der Alten lassend, auf den Weg zu ihrem Vater, um ihn um Verzeihung zu bitten. Als sie jedoch entkräftet niedersinkt und in einem naheliegenden Teich den Tod sucht, rettet sie der seinerseits suchende Vater, der ihr vergibt und sie nach Insterburg heimführt. Dorthin bringt auch Marthe das scheinbar verwaiste Kind zurück, nicht ohne zuvor bei Wenzeslaus nach dem Weg zu fragen, wo Läuffer des Kindes ansichtig wird, in ihm spontan die Frucht seines Fehltritts vermutet und sich zur Strafe kastriert, was ihm nicht nur den Beifall Wenzeslaus' einbringt, sondern ironischerweise auch das Ja-Wort der sich mit ihm begnügenden naiven Dorfschönen Lise. Nachdem sich Läuffer so gleichsam selbst vorzeitig aus dem Spiel genommen hat, sorgt schließlich ein Lotteriegewinn dafür, daß auch Fritz sich aus seinen Verstrickungen lösen und als verlorener Sohn in das Insterburger Elternhaus zurückkehren kann, wo er in einem komödienhaften Schlußtableau mit den Worten "dieser Fehltritt macht sie mir nur noch teurer" Gustchen trotz ihres unehelichen Kindes zur Frau nimmt.

Lenz hat dem forciert anti-aristotelischen Stück im Manuskript die Genrebezeichnung "Lust- und Trauerspiel" gegeben und in der Tat kann es sich um eine "Komödie" nur in dem zugleich realistischen und karikierenden Sinne handeln, den er in seiner "Selbstrezension des Neuen Menoza" auf die (schon an Dürrenmatt gemahnende) Formel gebracht hat: "Komödie ist Gemälde der menschlichen Gesellschaft, und wenn die ernsthaft wird, kann das Gemälde nicht lachend werden". In seiner rigoros vereindeutigenden Bearbeitung von 1950 hat Brecht (und nach ihm ein Großteil der Forschung) deshalb vor allem den sozialkritischen Gehalt des Stückes hervorgehoben (der Hofmeister als Modellfall des Intellektuellen in der "deutschen Misere"). Doch das die zeitgenössischen Ausdrucksregeln Sprengende und auf das Drama Büchners und Wedekinds Vorausdeutende des Stückes wird erst sichtbar, wenn man die im Untertitel allgemein formulierte Erziehungsthematik als Chiffre für die speziell gemeinte Sexualitätsproblematik versteht. Dann liest sich das Stück als die notwendig ebenso komisch wie tragisch anmutende Ausstellung der Untauglichkeit aller privaten und öffentlichen Rezepte, dessen Herr zu werden, was die Menschen aller Stände als ihr unbekanntes Wesen umtreibt: ihre Triebnatur.

© MR

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