Gottfried Keller

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* 19.7.1819, Zürich
† 15.7.1890 Zürich

schweizer Dichter und Schriftsteller, hoher Staatsbeamter

Zwei Ereignisse in Kindheit und Jugend wurden für Kellers Leben und Schreiben bestimmend: der Tod des Vaters in seinem 5. und die wegen eines jugendlichen Streichs erlittene Verbannung von der Schule im 15. Lebensjahr. Von nun an schlug sich Keller Jahre hindurch unstet durch das Leben, versuchte sich als Landschaftsmaler in München, trieb autodidaktische Studien, mischte sich seit Mitte der vierziger Jahre in die politischen Kämpfe seines Landes ein und schrieb Gedichte im Blick auf eine neue liberalere Gesellschaftsordnung. Dank eines Stipendiums seiner Vaterstadt Zürich konnte er 1848 ein Studium in Heidelberg aufnehmen, wo er Bekanntschaft mit dem Philosophen Ludwig Feuerbach schloß. Dessen religionsskeptische, konsequent auf das Diesseits ausgerichtete Lehre beeinflußte ihn tief und prägte sein Denken und Dichten, insbesondere seine Lyrik. Von 1850 bis 1855 hielt er sich in Berlin auf, wo er seinen Bildungs- und Künstlerroman Der grüne Heinrich verfaßte (1854-55). Das Werk spiegelt die zentralen Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend wider; es deckt psychologisch subtil die tiefreichende Mutterbindung eines des Vaters beraubten Sohns auf und es zeigt zugleich, wie dieser Sohn vergeblich dem väterlichen Ideal bürgerlicher Tüchtigkeit und beruflicher Solidität nachstrebt: ein Grund für seine wachsenden Schuldgefühle gegenüber der Mutter. Die ihm von der patriarchalischen Sozialordnung und von den Wechselfällen des freien Markts zugefügten Leiden vermehren seine gesellschaftliche Isolation und lassen sein Künstlertum scheitern. So ist dieser Bildungsroman ein Desillusionsroman geworden, der mit seinen ausgedehnten Reflexionen über Familie, Gesellschaft und Werkschaft ausgesprochen moderne Züge enthält. Auf moderne Einsichten weist auch das Liebesleben des Helden voraus: seine Spaltung in einen sinnlichen Eros einerseits und einen zärtlichen Eros andererseits beschreibt nach den Worten Sigmund Freuds ein allgemeines Kulturleiden.

Keller hat der ersten Fassung seines Romans eine zweite folgen lassen (1879-80), die maßvoller und milder als die ursprüngliche ist. Sie verwandelt den in Selbstverzweiflung und Tod endenden Lebensweg des Helden in eine distanzierte Lebensbejahung. Keller konnte diese versöhnliche Perspektive erst aus dem eigenen Lebensgang heraus entfalten. Er hatte 1861, als Zweiundvierzigjähriger, seine literarisch produktive, aber materiell elende Bohème in ein verantwortungsreiches Amt eingebunden: das des ersten Staatsschreibers seines Kantons (Zürich). Von diesem bürgerlichen Überlebenswillen zeugt seine zweite Romanfassung, freilich um den Preis einer Verringerung der ursprünglichen dramatischen Fallhöhe zwischen poetischer Illusion und entzaubernder Desillusion.

In seiner Berliner Zeit hatte Keller verschiedene novellistische Pläne verfolgt, doch nur den 1. Band des Erzählzyklus Die Leute von Seldwyla (1856) hatte er damals - zeitgleich zum Grünen Heinrich - vollenden und damit seinen schriftstellerischen Ruhm begründen können. Während seiner fünfzehnjährigen Amtszeit (1861-1876) hatte er lediglich den 2. Band der Leute von Seldwyla und den Erzählzyklus Sieben Legenden ausgearbeitet und abgeschlossen: ironisch-weltliche Gegenstücke zu frommen Wunder- und Märtyrergeschichten, virtuose Parodien christlichen Weltverzichts und schwerelos-heitere Zeugnisse der Diesseitsliebe Kellers im Geiste der Philosophie Feuerbachs. - Nach seinem Abschied vom Amt kann Keller seine Züricher Novellen zu Ende schreiben (1876/77). Nur die populärste von ihnen, Das Fähnlein der Sieben Aufrechten, lag seit 1861 fertig vor. Der Erzählzyklus konfrontiert drei bürgerliche Typen miteinander: den zweckrationalen Wirtschafts- und Dutzendbürger, den asozialen Unbürger und das wahre 'Original' - ein Muster an Tüchtigkeit und bürgerlichem Gemeinsinn, aber zugleich sozialer und ästhetischer Nonkonformist. - Einen weiteren Erzählzyklus legte Keller 1881 mit dem Sinngedicht vor. Rahmen- und Binnenhandlung verweisen kunstvoll aufeinander und behaupten mit ihren mannigfaltigen Korrespondenzen und Spiegelungen eine einzigartige Stellung im Kreis deutschsprachiger Erzählzyklen. Auch ihre Thematik ist überlebenskräftig bis heute geblieben: Begegnung der Geschlechter im Zeichen der Partnerwahl und Infragestellung der überlieferten Geschlechter-Rollen. - Dagegen erreicht Kellers letztes Werk, der Kaufmannsroman Martin Salander (1886), mit seiner resignativen Grundstimmung und der Ohnmacht seiner Bildungsmoral nicht die Höhe der voraufgegangenen Erzählprosa.

Zu Unrecht ist über Kellers epischem Werk sein lyrisches vernachlässigt worden. Mit den Neuren Gedichten (1851 und 1854) hat Keller einen eigenen lyrischen Ton gefunden. Der Diesseits-Emphase im Geiste Feuerbachs ordnet er kontrapunktisch das Eingedenken des Todes zu, der intensiven Nähe zur Natur die kontemplative Reflexion, dem leidenschaftlichen Gefühlsausdruck die illusionslose Nachdenklichkeit. Eine seltene Vielfalt humoristischer und zeitkritischer Töne sorgt für Variabilität und Spannungsreichtum; geistvolle Pointen verbürgen das vergnügte Aufmerken des Lesers. Unscheinbare Dingen des Alltags entfalten durch eine vertiefte Innenansicht eine ungeahnte Poesie. Unter den Lyrikern des Poetischen Realismus behauptet Keller neben Theodor Storm und C.F. Meyer einen oberen Rang (vgl. auch seine Gesammelten Gedichte von 1883).

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Wichtige Schriften

Sekundärliteratur