Johannes R. Becher

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* 22. 05. 1891, München
† 11. 10. 1958, Berlin/DDR

Dichter, Schriftsteller, Politiker

Immer schwieriger wird der Rückblick auf die expressionistische Generation, ihr Pathos und ihre Naivität in Sachen Weltverbesserung, wie sie etwa aus der klassischen Gedichtsammlung Menschheitsdämmerung, herausgegeben von Kurt Pinthus (1918), sprechen. Und wenn einzelne Autoren uns in den letzten Jahren wieder näher schienen, wie Georg Trakl oder Ernst Toller, so ist ein erneuertes Interesse an Becher und seinem umfangreichen und umstrittenen Werk kaum vorstellbar. Nicht immer entscheiden Talent oder 'poetische Gerechtigkeit' über das Verbleiben eines Werkes im kulturellen Gedächtnis - und für die Vergessenheit, in die Becher geraten ist, lassen sich mindestens vier (nicht-literarische) Erklärungen anführen:

Erstens: Der durchaus generationstypische Lebenslauf Bechers, der sich vom Pazifisten und gefühlsbetonten Lyriker zum Parteifunktionär (zunächst in der USPD, dann in der straff und repressiv gegliederten KPD, weiterhin im Moskauer Exil), und schließlich zum Kulturminister der DDR (1954-58) 'entwickelte', erscheint heute eher kurios und passt weder ins Selbstverständnis und die eingespielte Routine des politischen Managements noch in die des literarischen Betriebs.

Zweitens: Wenn es für sozialistische Lyrik eine Zukunft, oder mindestens einen ehrenhaften Platz in der Literaturgeschichte geben sollte, dann wird es die Lyrik Brechts, und eben nicht Bechers sein. Das heißt keineswegs, dass Becher (nur) ein platter Propagandist gewesen sei; er war auch ein lyrischer Formkünstler, wie etwa seine Sonette zeigen. Aber es ist ihm wohl nicht so wie Brecht gelungen, die Lyrik auch in formaler Hinsicht als Instrument eines dialektischen und "eingreifenden" Denkens zu handhaben bzw. erst zu einem solchen Instrument zu entwickeln: Fluch des frühen Pathos!

Drittens: Die Faszination der Weimarer Republik (auch auf die Literaturwissenschaft der späten 1960er und 1970er Jahre) konzentrierte sich stark auf Personen, gegen die Becher als Führer des KP-offiziellen "Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller" (BPRS) immer entschiedener Front bezog, also etwa Ernst Ottwalt, Alfred Döblin, Willi Bredel - und wieder Brecht. Becher dagegen war und blieb auf verhängnisvolle Weise der Mann des Parteiapparats.

Viertens: Die Geschichte wird bekanntlich von den Siegern geschrieben. Schon die mehr oder weniger systemkritischen Autor/inn/en aus der DDR haben es nach 1989 schwer mit dem Lesepublikum; wie ungünstig ist die Zeit dann erst für ausgesprochene Repräsentanten und Staats-Dichter wie Becher!? Kaum jemand scheint bereit, sich etwa mit seiner Vorstellung von der "Literaturgesellschaft" auseinanderzusetzen, in der (beim zweiten Blick) noch die durchaus expressionistische Wunschvorstellung einer sowohl politischen wie kulturellen Erneuerung zu erkennen ist.

Johannes R. Becher ist wohl auf individuelle Leser/innen angewiesen, die neugierig genug sind auf das, was sich hinter einer Wand von historischen Urteilen und Vorurteilen verbergen mag. Möglich, dass sich doch die eine oder andere Tür, oder zumindest ein Nadelöhr öffnet. Zu denken wäre an Bechers Tagebücher (Auf andere Art so große Hoffnung. Tagebuch 1950), vor allem aber den Antikriegsroman Levisite oder der einzig gerechte Krieg (1926), ein frühes Beispiel politisch-dokumentarischer Literatur mit dem gar nicht so unaktuellen Thema chemischer Massenvernichtungswaffen (ein Werk, das dem Autor eine Anklage wegen Hochverrats eintrug). - Vielleicht sollte man an Becher einmal Walter Benjamins Empfehlung erproben, nur solche Bücher zu lesen, die andere nicht mehr lesen wollen.

© HR

Wichtige Schriften

Sekundärliteratur