Märchen

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Das Märchen ist eine kürzere Prosaerzählung, die wunderbare Begebenheiten zum Gegenstand hat. Im Unterschied zur Sage sind sie frei erfunden und knüpfen nicht an tatsächlich Vorgefallenes an. Die Märchenhandlung ist weder zeitlich noch räumlich festgelegt. Das phantastische Element kommt in sprechenden Tieren und Gegenständen, Verwandlungen und Verzauberungen zum Ausdruck. Grausame Elemente (wie harte Strafen) weisen auf die Verwandtschaft mit dem Mythos hin. Während im Mythos allerdings das Gute und das Böse noch unterschiedslos vereint ist, werden die verschiedenen Kräfte im Märchen in der Regel säuberlich getrennt (oft in Form guter und böser Figuren). Diese klare Aufteilung und die relativ einfache Struktur prägen die Form des Märchens. Inhaltlich steht meist ein Held im Mittelpunkt, der Auseinandersetzungen mit guten und bösen, natürlichen und übernatürlichen Kräften bestehen muß. In sprachlicher Hinsicht finden sich viele Redensarten und Sprichwörter.

Der russische Folklore-Forscher Vladimir Propp untersuchte 1928 einhundert russische Zaubermärchen und kam zu dem Resultat, daß sie alle ihrer Struktur nach einem gemeinsamen Typ angehören. Immer wieder treten die selben Figuren (nämlich sieben Handlungsträger oder "Aktanten") auf. Die Handlungselemente ("Funktionen") lassen sich zwar in verschiedenen Kombinationen finden, sind aber in ihrer Zahl prinzipiell begrenzt (auf einunddreißig - wozu die Ausfahrt des Helden, der Kampf mit seinem bösen Gegenspieler und schließlich die Heirat mit der "Zarentochter" gehören). Auch wenn Propp sich bewußt auf Zaubermärchen aus der russischen Überlieferung beschränkte, können doch ähnliche Strukturen und Stoffe in verschiedenen Sprachgemeinschaften auftreten und auf einen eventuellen gemeinsamen Ursprung zurückverweisen (internationale Typen sind beispielsweise Dornröschen oder Aschenputtel).

Eine wichtige Rolle spielten die Märchen für die Entwicklung des Nationalbewußtseins und der Nationalliteraturen. Vor allem in der Romantik wurden zahlreiche Sammlungen von Volksmärchen angelegt (hier ragen die Volksmärchen der Deutschen von J.K.A. Musäus aus den Jahren 1782/87 heraus). Die Begründer der Germanistik, Wilhelm und Jakob Grimm, verbanden ihre berühmte Märchensammlung Kinder- und Hausmärchen (1812/15) mit wegweisenden Verfahren der wissenschaftlichen Editionstechnik. Zu erwähnen ist auch Ludwig Bechsteins Deutsches Märchenbuch von 1845.

Dem anonymen und mündlich überlieferten Volksmärchen, das einem festen narrativen Schema folgt und sich an ein jugendliches Lesepublikum wendet, steht die stärker literarisierte Form des Kunstmärchens gegenüber. Hier ist es ein klar identifizierbarer Autor, der seine Märchenerzählungen schriftlich fixiert. Diese häufig an symbolischer Darstellung interessierte Form verbindet sich mit dem Anspruch auf geistvolle Unterhaltung. Einer der wesentlichen Initiatoren der Kunstmärchenproduktion war Johann Gottfried Herder. Wichtige Autoren sind Goethe (Märchen, 1795) und wiederum vor allem romantische Schriftsteller wie Ludwig Tieck, Adalbert von Chamisso, E.T.A. Hoffmann, Clemens Brentano und Wilhelm Hauff. Im Unterschied zu ihnen, die eher ein erwachsenes Publikum im Blick hatten erzählte der dänische Dichter Hans Christian Andersen seine Märchen für Kinder (Eventyr fortalte for børn, 1835/41). Im 20. Jahrhundert beschäftigten sich Schriftsteller im Zusammenhang mit der Nacherzählung von Mythen auch mit dem Märchen, wie zum Beispiel Franz Fühmann.

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Sekundärliteratur