Startseite
Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

* 11.09.1903, Frankfurt am Main
† 06.08.1969, Visp / Wallis

Philosoph, Soziologe und Musiktheoretiker

Der junge Philosophiedozent Theodor W(iesengrund) Adorno zählte vor 1933 zu einer Generation deutsch-jüdischer Intellektueller, die theoretische Einsichten des Marxismus, aber etwa auch der Psychoanalyse für die kritische Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft nutzen wollte. Mehr oder weniger enge Kontakte verbanden ihn mit Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Herbert Marcuse, Georg Lukács, Bertolt Brecht u.a. Mit seinem Freund Max Horkheimer, dem Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Frankfurter Universität, überstand Adorno das amerikanische Exil und reimportierte die sogenannte Kritische Theorie nach Westdeutschland. Ihre Frankfurter Schule gewann bald profilierte Köpfe aus der nächstjüngeren Generation (Jürgen Habermas, Oskar Negt) und wurde in den sechziger Jahren zum Kristallisationspunkt gesellschaftskritischen Denkens im (und gegen den) weithin immobilen CDU-Staat - und damit zu einer theoretischen Quelle der Studentenbewegung von 1967/68.

Adorno verstand sich als Fachphilosoph, der über Kant, Hegel, Husserl und Kierkegaard schrieb und die schwer lesbare Negative Dialektik (1966) als sein Hauptwerk betrachtete. Seit dem amerikanischen Exil war er auch mit aufwendigen empirisch-soziologischen Forschungen befaßt. Seine musikalische Begabung führte ihn jedoch von Anfang an auch zu Fragestellungen der allgemeinen Ästhetik sowie speziell zur Musiksoziologie (von wo sich Transfermöglichkeiten zur Literatur ergaben). Zentrales Moment in Adornos Ästhetik ist die Einsicht in den "Doppelcharakter der Kunst als autonom und als fait social" (soziale Tatsache) und die Konsequenz daraus: "Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form." (S. 16). Mit dieser dialektischen Verknüpfung von historischem Gehalt und ästhetischer Formsprache überholt Adorno sowohl die vulgärmarxistische Sicht des Kunstwerks als bloße Widerspiegelung der Sozialstruktur, als Reflex der Klassenkämpfe (z.B. im Sozialistischen Realismus), wie auch die spätbürgerliche Kunstreligion, die gegen alle Erfahrung noch an eine zeitenthobene Sphäre des Schönen (Wahren, Guten?) glaubt (z.B. die Werkimmanente Interpretation). Die erwähnte Dialektik zeigt sich darin, daß das Kunstwerk kritische, ja utopische Distanz zur schlechten historischen Realität halten kann - freilich nur, wenn es in seiner inneren Organisation auf dem Stand der gesellschaftlichen Entwicklung bleibt. Im Rahmen einer insgesamt pessimistischen Geschichtsphilosophie spitzt sich diese Dialektik im 20. Jahrhundert derart zu, daß das autonome Kunstwerk zum einzigen Statthalter von Vernunft, Freiheit und Glück in einem universalen Verblendungszusammenhang wird.

Adorno war kein Literaturwissenschaftler. Und wenn er oft als Vertreter der Literatursoziologie charakterisiert wird, so hat er sich doch zumindest von deren empirischen Schule scharf abgegrenzt. Seine Noten zur Literatur sind individuelle - im Sinne seines Freundes Benjamin mit der linken Hand geschriebene - Etuden eines an Tradition und Avantgarde geschulten Literaturliebhabers. Neben bestimmten Kapiteln aus der Dialektik der Aufklärung oder der fragmentarisch gebliebenen Ästhetischen Theorie haben gerade auch essayistische Miniaturen wie Standort des Erzählers im modernen Roman oder Rede über Lyrik und Gesellschaft durch prägnante und überraschenden Formulierungen eine (damals) neue Sicht auf die Literatur eröffnet. Daß sie eine ganze Generation jüngerer Literaturwissenschaftler/innen inspirieren konnten, spricht nicht nur für den Esprit des Verfassers, sondern auch gegen die geistige Dürre der fachlich zuständigen Germanistik jener Jahre.

© JV

Quelle

  • Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970.

Wichtige Schriften

  • Noten zur Literatur I-IV (1958, 1961, 1965, 1974)
  • Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen (1962/1968)
  • Ästhetische Theorie (1970)

Sekundärliteratur

  • B. Lindner / W.M. Lüdke: Materialien zur Ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos. Konstruktion der Moderne, Frankfurt a. M. 1980.
  • H. Scheible: Theodor W. Adorno, Reinbek bei Hamburg 1989.
  • R. Wiggershaus: Theodor W. Adorno, München 1987.