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Sophokles: König Ödipus

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"Father, I want to kill you - mother, I want to f....." - das Unaussprechliche mündet ein in einen langgezogenen, ekstatischen Schrei, Gesang löst Sprache ab - Jim Morrison von den Doors ist nicht der Einzige, der die ödipale Konstellation mit einer eigenen Stimme neu belebt. Noch immer strahlt die Geschichte des Ödipus eine große Faszination aus, noch immer bietet das Geschehen um den Vatermörder und Muttergeliebten wider Willen einen wunderbaren Projektionsraum für Kunst, Philosophie und Psychologie: Ödipus ist überzeitlicher und unauslöschlicher Bestandteil unseres kollektiven Bewusstseins. Die Geschichte des Ödipus, so wie wir sie bis heute kennen, wurde nachhaltig durch das Drama des Sophokles bestimmt. Denn noch bei Homer und seiner wenigzeiligen Erwähnung in der Odyssee im elften Gesang ist die Geschichte nur wenig ausgeschmückt - im Zentrum steht lediglich der Vatermord und der Inzest mit der Mutter, die sich jedoch sofort (und kinderlos) das Leben nimmt, während Ödipus in Theben weiter regiert. Erst in der nachhomerischen Dichtung wird der Kern des Mythos mit zusätzlichen Geschichten angereichert, die schließlich Eingang finden in die wirkungsmächtigste Verschriftlichung durch Sophokles.

Über die Entstehung und Uraufführung des König Ödipus gibt es keine verlässlichen Informationen. Die sich widersprechenden Theorien orientieren sich zumeist an der Pest: 430 v. Chr. tritt sie in Athen auf, ein Jahr später, 429, stirbt Perikles daran. Die Streitfrage ist nun, ob die Tragödie im Todesjahr des Perikles, der eng mit Sophokles befreundet war, oder zwei Jahre später, 427, zur Aufführung kam. Letztlich ist die Frage nicht beantwortet worden, auffällig ist in jedem Fall die Engführung von Fiktion (Sophokles lässt sein Drama mit der Pest in Theben beginnen) und Geschichte (Pest in Athen), die in beiden Fällen zur politischen Krise innerhalb der polis führte.

Sophokles erzählt seine Ödipus-Version nicht chronologisch. Die Handlung setzt mit der Schilderung der Pest in Theben ein, und entfaltet von hier aus allmählich die Gesamtgeschichte. Aus verschiedenen (Figuren-)Perspektiven wird das zurückliegende Geschehen in einzelnen Erzählfragmenten zusammengetragen. In dem Maße, in dem Ödipus zur Selbsterkenntnis, das heißt zum Wissen über sein wahres Ich gelangt, gewinnen die ZuschauerInnen Einblick in den Gesamtzusammenhang des Erzählten, in die Geschichte. Selbsterkenntnis und Geschichtsschreibung fallen auf diese Weise zusammen und ergänzen sich.

Wie ist jedoch die jahrhundertlange Faszination für den Stoff und das Drama zu erklären? Auf der Ebene der Theatergeschichte lässt sich der große Erfolg der Tragödie wesentlich auf zwei pragmatische Gründe zurückführen: Erstens ist das Ödipus-Stück erhalten geblieben (zum Beispiel im Gegensatz zu jenem früheren des Aischylos von 467 v.Chr.). Zweitens verdankt sie Aristoteles ihre Sonderstellung: Die Poetik, die Aristoteles in Kenntnis der Geschichte und Praxis des antiken Theaters geschrieben hat und von da aus seine Theorie entwickelte, stützt sich in der Argumentation wesentlich auf den König Ödipus; umgekehrt ist es eben die Poetik, die das Drama damit als das Vorbild antiker Bühnenkunst vorstellt und zum allgemeingültigen Maßstab erhebt.

Es gibt aber auch inhaltliche Gründe, die mit verantwortlich sind für die Erfolgsgeschichte des König Ödipus - im Vordergrund stehen wesentlich zwei Aspekte. Erstens die Frage nach der Schuld bzw. Unschuld des Ödipus. Der Held erkennt bei Sophokles das Ausmaß und Grauen seiner Tat, sieht sich aber nicht als Schuldigen, eher als Schuldbeladenen, als 'Kind von Frevlern'. Diskutiert wird damit das Verhältnis von Wissen und Schuld, vor allem aber die Frage nach der Möglichkeit und den Bedingungen individuellen Handelns angesichts einer strukturell komplexen Objektwelt, in die das Subjekt notwendig und unentrinnbar eingebunden ist. Zweitens wird der Drang des Ödipus, Licht in die (eigene) Geschichte zu bringen, als zentrale Thematik des Dramas begriffen. Die menschliche Erkenntnisfähigkeit im Allgemeinen, der Wille zur Selbsterkenntnis im Besonderen strukturieren das Drama, sorgen auf der plot-Ebene für Spannung. Auf der Metaebene führen sie erstens zur grundlegenden Diskussion von 'Schein und Sein', zweitens zur Sinnhaftigkeit einer selbstzerstörerischen und damit auch utopielosen Selbsterkenntnis, drittens zum Prozess der Erforschung tiefverborgener Wünsche, Ängste und Abwehrmechanismen. Be- und hinterfragt werden damit die Rolle der Selbsterkenntnis - der Mündigkeit - und die damit immer latent präsente Gefahr des Selbstverlusts als einem zentralen Moment (moderner) Subjektbildung.

©AE

Sekundärliteratur

  • H. Flashar: Sophokles. Dichter im demokratischen Athen, München 2000.
  • J. Pfeiffer: Arbeit am Mythos. Ödipus in der deutschsprachigen Literatur, in: Freiburger Universitätsblätter 148 (2000) 2: Oedipus und seine Brüder, S. 35-47.
  • R. v. Ranke-Graves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 337-342.