Freizeitlektüre / Schullektüre

Drucken

Kinder und Jugendliche lesen in ihrer Freizeit nicht nur anderes, sondern auch anders als in der Schule. Dieser Befund klingt trivial, stellt aber eine große Herausforderung für die schulische Leseförderung dar. Lesen in der Freizeit ist selbstbestimmt und häufig lustbetont. Zahlreiche empirische Untersuchungen aus der Buchmarktforschung bestätigen, daß die Befragten in der Vorpubertät geradezu lesesüchtig waren (dies wird im übrigen auch von älteren autobiografischen Zeugnissen, gerade auch von Schriftstellern, bestätigt). Die Lektüre von oftmals stereotypen Texten ("heile Welt" und happy-end, Abenteuerromane, Fantasy-Geschichten mit allmächtigem Helden und rigiden Normsystemen) wird als Rückzugsraum gegen die pädagogisch-moralisierenden Einwendungen Erwachsener verteidigt. Es wird daher vermutet, daß sich Jugendliche in ihren Lektüren mit den Normen der Erwachsenenwelt mehr oder weniger unbewusst auseinandersetzen. Deren Interessebekundungen gegenüber der jugendlichen Lektüre wird beargwöhnt: Zurecht oder jedenfalls verständlich, wie die historische Leseforschung zeigt; - dokumentiert sind jedenfalls die endlosen Bemühungen von Eltern, Lehrern, Pfarrern und anderen pädagogisch-moralischen Instanzen, die Lektüren der Kinder und Jugendlichen einzudämmen und zu kanalisieren. Weniger triviale, ebenfalls oft anzutreffende Texte sind in der ausgehenden Pubertät zu finden, wo persönliche Identitätsfragen eine dominante Rolle spielen: z.B. Romane von Max Frisch oder Hermann Hesse, Autobiografien und Biografien. Erzieherische Versuche, diese Lektüren aktiv zu steuern, treffen auf erheblichen Widerstand. Dennoch gibt es nachweisbare Einflussfaktoren, die steuern, ob und was jemand liest: das Leseverhalten der Eltern, die besuchte Schulform, die soziale Schicht sowie das Leseverhalten im Freundeskreis. Auch das Geschlecht spielt eine wichtige Rolle: Mädchen lesen insgesamt mehr, aber auch deutlich mehr Unterhaltungs- und Trivialliteratur als Jungen und weniger Sachbücher.

Die Grundschulzeit zeigt noch starke Überschneidungen zwischen Freizeitlektüre und Schullektüre, wobei die Schule immer mehr Aspekte literarischer Sozialisation übernehmen muss, die zuvor im Normalfall durch das (bürgerliche) Elternhaus vermittelt wurden. Überraschend einstimmig sind die Aversionen gegen die darauf folgende schulische Behandlung von Literatur, insbesondere in der Sekundarstufe I. Die an Sachlichkeit orientierte Methode der Interpretation im Unterricht werden oft als fremdbestimmtes "Zerreden" von Literatur wahrgenommen. Nicht nur sind die Texte andere als die, welche von den Jugendlichen in ihrer Freizeit gelesen werden – vor allem wird die Art und Weise der Auseinandersetzung mit Literatur, die zur autonomen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben befähigen soll, entschieden abgelehnt: Triebgesteuerte Lektüre, die dem noch schwachen Ich Kompensation und Freiräume verschaffen kann, die den Text den eigenen Bedürfnissen unterordnen (und nicht umgekehrt), können und wollen Schüler/innen aus ihrem persönlichen Entwicklungsprozess heraus nicht rational analysieren und kommunizieren. Versuche, sich den subjektiven Schülerinteressen anzunähern, indem die Freizeitlektüre in den Unterricht (oder gar in den Lehrplan) integriert wird, sind zwar gut gemeint, verfehlen aber aufgrund dieser unterschiedlichen Interessen und Funktionen zumeist das Ziel, die Lesemotivation der Schüler/innen zu steigern.

Vielversprechender erscheinen deshalb Versuche, eine selbst bestimmte Lesekultur in der Schule zu entwickeln, die verstärkt auch ausserunterrichtliche Aktivitäten umfasst: Klassen- bzw. Schülerbibliothek, gemütliche Leseecken, gemeinsame Lesenächte, Autorenlesungen usw. sind entsprechende Aktivitäten. Im Unterricht soll die Besprechung von Texten der Kinder- und Jugendliteratur und eine größere Offenheit gegenüber subjektiven Lektüren und Textdeutungen das Dilemma mildern.

© pflug

Sekundärliteratur