Literatursoziologie

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Die Literatursoziologie als eine Methode der Literaturwissenschaft zu bezeichnen, ist problematisch. Denn unter diesem Begriff werden die unterschiedlichsten Ansätze innerhalb der Germanistik und anderer Philologien subsumiert. Gemeinsam haben sie allenfalls, daß sie die Produktion und Rezeption von Literatur, die ästhetische Gestalt des Textes und / oder die Entwicklung literarischer Genres im Zusammenhang mit gesellschaftlichen und soziokulturellen Bedingungen betrachten. Sie beschäftigen sich also hauptsächlich mit der Frage, wie sich das Verhältnis von Literatur und gesellschaftlichem Leben beschreiben läßt.

Den Auftakt zu dieser soziologischen Betrachtungsweise von Literatur bildeten die kultur- und kunstsoziologischen Schriften von Georg Simmel, Max Weber und die Arbeiten aus dem Frühwerk von Georg Lukács. Aber auch Literaturwissenschaftler im engeren Sinne haben schon vor dem Ersten Weltkrieg soziologische Kategorien an literarische Texte herangetragen. Hier reicht das Spektrum von einer Sozialgeschichte der Literatur (A. Hirsch) über publikumssoziologische Fragen (L. Schücking) bis zu einer marxistisch-materialistischen Verfahrensweise (A. Kleinberg). Eine dominante Rolle spielten diese Ansätze in der Literaturwissenschaft jener Zeit jedoch nicht; gegen die Vorherrschaft der geistesgeschichtlichen Methode konnten sie sich nicht durchsetzen.

Ging die orthodox marxistisch orientierte Literatursoziologie noch sehr vereinfachend von einem reinen Widerspiegelungsverhältnis von Literatur und Gesellschaft aus, so hatte sich im Bereich der klassischen Soziologie (Simmel, Weber) die Überzeugung durchgesetzt, daß es sich bei der Kunst um einen eigenständigen Bereich der Gesellschaft handele, der nach eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten funktioniere. An diesem Punkt setzte dann auch die Literaturwissenschaft der Siebzigerjahre an, die nach der werkimmanenten Interpretation der Fünfziger- und Sechzigerjahre mit ihrem sehr stark eingeengten Blick auf das Kunstwerk wieder die Gesellschaft in den Blick nahm. Eine wichtige Position nimmt hier Theodor W. Adorno ein, der die Literatur in einem dialektischen Wechselspiel als abhängig von der gesellschaftlichen Situation und als autonom betrachtet - 'autonom' bedeutet in diesem Zusammenhang, daß sie sich den sozialen Verwertungsprozessen entzieht und dadurch in Widerspruch zur Gesellschaft steht.

Ein anderer einflußreicher Kultur- und Literatursoziologe, dessen Einfluß bis in die heutige Zeit reicht, ist der Franzose Pierre Bourdieu. Er entwickelt im Anschluß an den Marxismus und durch eine Erweiterung des dort verwendeten Kapitalbegriffs eine Kulturtheorie, welche der Literatur einen eigenständigen Bereich in der Gesellschaft zuordnet. Allerdings wird die Literatur sowohl ästhetisch als auch inhaltlich durch die soziale Position des Autors und damit indirekt durch die Gesellschaft determiniert. Sowohl hohe als auch Trivialliteratur kann stellvertretende Aussagen für eine bestimmte Klasse machen, als deren Sprachrohr der jeweilige Autor begriffen wird.

Als literatursoziologische Methoden neueren Zuschnitts können Systemtheorie und Empirische Literaturwissenschaft genannt werden. Konzentriert sich die Systemtheorie dabei auch auf literarische Werke und die Kommunikation über diese, so versucht die Empirische Literaturwissenschaft die komplexen Zusammenhänge von Kunstproduktion, -rezeption, -vermittlung und -verarbeitung zu analysieren. Sie beschäftigt sich also nicht nur mit der Literatur im engeren Sinne, sondern auch mit ihrer Vermittlung in Literaturkritik oder Schule, mit ihrer Produktion durch den Autor oder den Verlag, mit ihrer Verarbeitung in der Werbung und natürlich mit ihrer Rezeption durch den individuellen Leser. Die Empirische Literaturwissenschaft berührt also nicht nur das Literatursystem, sondern auch das Wirtschafts-, Erziehungs- und Wissenschaftssystem.

©rein

Sekundärliteratur