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* 04.08.1923, Graz

Anglistischer Literaturwissenschaftler

Der Österreichische Anglist Franz K. Stanzel hat sich in einer ganzen Reihe von Schriften, beginnend in den fünfziger Jahren, um die Ausarbeitung einer deskriptiven bzw. analytischen Typologie bemüht, mit der besonders die innere Perspektivierung und die spezifische Erzählweise von Romanen oder anderen narrativen Texten erfaßt werden kann. Unter (eher assoziativem) Verweis auf Goethes Konzept von den Naturformen der Dichtung (1819) entwickelt er eine kreisförmige Konstellation von "typischen", d.h. vielfach auffindbaren narrativen Modellen, für die er den (leicht mißverständlichen) Ausdruck Erzählsituationen durchsetzt. Der sogenannte "Typenkreis" von auktorialer, personaler und Ich-Erzählsituation gehört seit langem zum literaturanalytischen Grundwissen (und kann bei Bedarf noch um eine 'neutrale' Variante bzw. um vielfache Misch- und šbergangsformen ergänzt werden).

Diese "Erzählsituationen" sind also komplexe Kategorien, die verschiedene Einzelmerkmale (z.B. grammatische Person; Begrenzung des erzählerischen Blickfeldes oder Wissens; Einsatz von reflexiven und kommentierenden Textelementen) in einer Art und Weise kombinieren, die dem historischen Stand der Erzähltechnik wie auch der jeweiligen Werkintention entspricht. Eben deswegen wird Stanzels Konzept verschiedentlich fehlende Systematik und mangelnde analytische Trennschärfe vorgeworfen - am plausibelsten wohl von Gérard Genette, der Stanzels Typenkreis ein eigenes, eher binäres Schema von Fokalisierungstypen entgegensetzt. Auf der anderen Seite ist unbestreitbar, daß Stanzels Konzept gerade wegen seines synthetischen Charakters besonders brauchbar und anschaulich ist, wenn es um die strukturelle Beschreibung konkreter Texte geht. Besonders die anhaltende Verbreitung seines didaktisch angelegten Leitfaden Typische Formen des Romans (zuerst 1964) belegt diesen Gebrauchswert.

Wissenschaftsgeschichtlich darf man Stanzels Arbeiten neben Käte Hamburgers Logik der Dichtung und Eberhard Lämmerts Bauformen des Erzählens stellen, mit denen Mitte der fünfziger Jahre in Deutschland die Ausarbeitung einer rational und analytisch orientierten Literaturwissenschaft, zunächst vor allem auf dem Gebiet der Erzähltheorie, begann. In diesen Prozeß, den man auch als mühsame šberwindung der ideologischen Fixierung der deutschen Germanistik verstehen darf, konnte Franz K. Stanzel, der als Anglist zunächst in Göttingen und Erlangen lehrte, auch seinen fachspezifischen Kontakt zur angloamerikanischen Literaturwissenschaft im Sinne eines undogmatischen Pragmatismus einbringen.

© JV

Wichtige Schriften

Sekundärliteratur