Empirische Literaturwissenschaft

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Bekämpfen Sie das häßliche Laster der Interpretation! Bekämpfen sie das noch häßlichere Laster der richtigen Interpretation! So lautet der programmatische Titel eines 1979 von Siegfried J. Schmidt verfaßten Aufsatzes, in dem er die Abschaffung der Interpretation für den Bereich des wissenschaftlichen Handelns fordert. Interpretation sei das subjektivistische und irrationalistische Privatvergnügen von Germanisten, das einer Prüfung auf Wissenschaftlichkeit nicht stand halten könne. Schmidt unterstellt hiermit, daß die Interpretation (die es in dieser Form als die Interpretation gar nicht gibt) theoretisch nicht genügend fundiert ist (also kein akzeptables wissenschaftliches Programm präsentiert), daß sie auf 'weichen' Kategorien wie "Einfühlung" oder "allersubjektivsten Gefühlen" fußt, und deshalb mehr Kunst als Wissenschaft sei. Auch unterstellt er, daß sie vornehmlich der Ermittlung der Autorintention und der richtigen Bedeutung des Textes diene. An dieser Stelle wird deutlich, daß sich die Vorwürfe Schmidts nicht generell auf literaturwissenschaftliche Verfahrensweisen applizieren lassen, sondern besonders die werkimmanente Interpretation Wolfgang Kaysers und Emil Staigers treffen. Vor allem das Nicht-Lehrbare der Interpretation, die Idee, daß nicht alle (dazu) berufen sind, wie es Wolfgang Kayser 1948 formulierte, ist im Sinne der Empirischen Literaturwissenschaft (ELW) nicht tolerabel. Gerade die Vermittelbarkeit von wissenschaftlichen Kategorien und damit das 'Erlernen-Können' einer wissenschaftlichen Methode ist eine Grundidee Schmidts. Möglich wird dies, indem der Literaturwissenschaftler sich radikal vom Text abwendet. Er versucht nicht mehr länger, den Text zu analysieren, sondern wendet sich der Analyse des 'Literatursystems' zu. Dieses Literatursystem gliedert sich in verschiedene Handlungsrollen - Produktion, Vermittlung, Rezeption, Verarbeitung - , auf die sich das Hauptaugenmerk richtet. Der Empirische Literaturwissenschaftler versucht, "das Verhalten von Teilnehmern am Literatursystem vor Ort (in der Schule, bei Autorenlesungen, Preisverleihungen, im Kindergarten, bei Literaturlesern zu Hause, usw.) oder im Untersuchungsraum der Hochschule fest(zu)halten." (S. 144). Methodisch bedient sich die ELW bei der empirischen Sozialforschung, der Psychologie und Psycholinguistik und favorisiert Beobachtung, Befragung oder Interview, Experiment, Gruppendiskussion, Sekundärauswertung und Computersimulation.

Das Besondere an dieser Vorstellung von Literatur als einem System ist, daß die Vertreter der ELW davon ausgehen, daß das Literatursystem eigenständig neben anderen gesellschaftlichen Teilsystemen (Wirtschaft, Politik, Kunst) bestimmte Funktionen bzw. Leistungen für andere Teilbereiche der Gesellschaft übernimmt. Die Hauptfunktion des Literatursystems besteht nach Schmidt darin, das Individuum von Differenzierungsschäden zu heilen. Was haben wir uns darunter vorzustellen? Schmidt und andere Systemtheoretiker gehen davon aus, daß der Mensch beim Übergang zur modernen Gesellschaft immer häufiger sein Getrenntsein von der Welt erfährt. Er handelt tagtäglich in verschiedenen sozialen Rollen, als Anwalt, Ehemann, Käufer, Antragsteller, Patient usw., ohne jemals als ganze Persönlichkeit wahrgenommen zu werden. Er empfindet sich häufig oder ständig nur als Bruchstück seines Ichs, er hat sich von der Welt entfernt. Diese Erfahrung, die sich im Gefühl der Entfremdung niederschlägt, soll nun durch die Literatur, durch Lektüre überwunden oder kompensiert werden.

Bleibt die Frage, was für den Empirischen Literaturwissenschaftler als literarischer Text gilt. Die Antwort lautet, daß dies von der Beobachtung der Aktanten des Literatursystems abhängt. Behandeln sie einen Text als literarischen Text? Lesen sie ihn nicht in erster Linie auf Referenzialisierbarkeit in der Wirklichkeit hin? Wollen sie die Aussagen des Textes nicht auf ihren Wahrheitsgehalt, ihre Authentizität prüfen? Dann verhalten sie sich der sogenannten 'Ästhetikkonvention'gemäß, und die ELW hat ein erstes Indiz für einen literarischen Text gefunden. Das zweite Indiz zeigt sich, wenn der Leser den Text nicht auf eine feststehende Bedeutung hin liest, sondern viele mögliche Bedeutungen erwartet. Nun hat der Leser auch die 'Polyvalenzkonvention' erfüllt. Der Aktant hat den Text als literarischen Text behandelt, also handelt es sich um einen literarischen Text. Dabei kann es sich dann – rein theoretisch – auch um einen Einkaufszettel handeln, der einem bekannten Lyriker bei seinem freitäglichen Einkauf aus der Manteltasche fällt, von einem glühenden Fan aufgehoben wird und in der nächsten Ausgabe der lokalen Literaturzeitschrift als Sensation veröffentlicht wird. Der Einkaufszettel des Dichters wurde durch die Handlungen der Aktanten (Fan, Zeitschriftenredaktion, Leser) zu Literatur.

Stellt man die Frage nach der Anwendbarkeit dieser Theorie, so ist es wohl am wichtigsten, das eigene Erkenntnisinteresse zu formulieren. Man muß sich klarmachen, daß der Text als Kunstwerk, als Botschaft der Geschichte oder der Geschichtenerzähler für die ELW nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses steht. Vielmehr ist es das soziale Handlungssystem Literatur, das im Fokus des Wissenschaftlers / Studenten erscheint.

©rein

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Wichtige Schriften

Sekundärliteratur