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Eine Fiktion ist eine Aussage bzw. Darstellung eines Sachverhalts oder Geschehens ohne überprüfbare Referenz (Wirklichkeitsbezug), die demnach weder "wahr" noch "falsch" genannt werden kann. Die literarische Fiktion im besonderen stellt, in Anlehnung an eine Formulierung Kants, "gedichtete und zugleich dabei für möglich angenommene Gegenstände" (Kritik der reinen Vernunft, B 799) vor und grenzt sich damit, in dramatischer wie epischer Ausformung, von der Wirklichkeitsaussage, insbesondere vom historischen Bericht ab. Geschichtsschreiber und Dichter unterscheiden sich bereits nach Aristoteles "dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte." (Poetik, Kap. 4) In dieser Nachahmung oder Darstellung (mimesis) des Möglichen sieht Aristoteles sogar die Überlegenheit der dichterischen Fiktion, im Sinne höherer Allgemeinheit, über die ans faktisch Besondere gebundene Geschichtsschreibung begründet. Damit widerspricht er der bei den Vorsokratikern entwickelten und von Platon resümierten Abwertung der Dichtung als "Lüge" und sichert ihr einen Eigenwert, der den abendländische Literaturbegriff bis heute prägt: Literatur ist immer Erfindung. [...] Wer eine Erzählung 'wahr' nennt, beleidigt Kunst und Wahrheit zugleich. (Vladimir Nabokov). Die neuere Sprachphilosophie bestimmt die erzählerische Fiktion als Behauptung ohne behauptende Kraft (Gottlob Frege), als pretended assertion (John R. Searle), als Rede, die keinen Anspruch auf Referenzialisierbarkeit oder auf Erfülltheit erhebt (Gottfried Gabriel).
Die angemessene Rezeption fiktionaler Texte setzt voraus, daß aufgrund einer unausgesprochenen 'Übereinkunft' eines 'Paktes' zwischen Autor und Leser der Anspruch auf Verifizierbarkeit, den wir sonst an informative Texte richten, "suspendiert" wird. Die suspension of disbelief, von der bereits der englische Romantiker S.T. Coleridge sprach, realisiert sich in einer spezifischen Situation oder Institution (z.B. im Theater, wo Schauspieler ein Geschehen fingieren, das wir nicht als historische Behauptung verstehen, auch wenn die Hauptfigur Wallenstein oder Julius Cäsar heißt). Oder sie wird, insbesondere bei der Lektüre von Erzähltexten, durch Kontextangaben hervorgerufen, vor allem durch die gattungs-poetische Deklaration als "Roman", "Novelle" u.ä. Dies gilt auch für die - sehr zahlreichen - Fälle, wo Orte, Daten, Personen, Geschehnisse einer Erzählung oder eines Dramas der historischen Realität entlehnt sind. Zuschauer oder Leser beziehen einen Dramenhelden namens Wallenstein oder den Romanschauplatz Lübeck nicht - oder doch nur in einem sehr indirekten Sinn - auf die historisch-empirische Realität. Sie akzeptieren, daß eine Bühnenfigur mit historisch verbürgtem Namen sich anders verhält als der historische Träger dieses Namens - oder auch, daß sich fiktive Personen namens Buddenbrook an historisch authentischen, heute noch auffindbaren Schauplätzen bewegen. Bestimmend bleibt auch in solchen Fällen die rezeptionslenkende Deklaration als fiktionaler Text: So wie der Löwe, [...], fast nur verdauter Hammel ist, so ist die Fiktion fast nur fiktionalisierter Wirklichkeitsstoff. (Gérard Genette)
Zum logischen Status und zu den - textexternen und textinternen - Unterscheidungsmerkmalen von fiktionalen und faktualen Texten haben u.a. Käte Hamburger (1957) und Gérard Genette (1991) anregende und lebhaft diskutierte Beiträge vorgelegt.
Das Bewußtsein vom Eigenwert der Fiktion, das stets die Frage nach der besonderen Erkenntnisqualität oder Wirkungsmacht der künstlerischen Imagination berührt, ist historisch gewachsen und wandelbar. Im griechischen Altertum markiert, wie zuletzt Heinz Schlaffer gezeigt hat, die Poetik des Aristoteles eine Ausdifferenzierung des archaischen Mythos in wissenschaftliche Erkenntnis einerseits und (fiktionale) Dichtung andererseits, welche dann als Organ des Möglichkeitssinns (Robert Musil) zunehmend kompensatorische Funktionen übernimmt: so ergänzt die Fiktion uns verstümmelte Wesen, die wir nur ein einziges Leben haben und die Fähigkeit, tausend zu wünschen. (Mario Vargas Llosa) In der frühen Neuzeit wehrt sich fiktionale Erzählliteratur zwar durch nachdrückliche Authentizitätserklärungen gegen gattungspoetische Geringschätzung. Sie werden aber zunehmend - wie schon das Es war einmal... des Märchens - gegen ihren Wortlaut als Ankündigung von Fiktion verstanden. Die 'realistische' Literatur besonders des 19. Jahrhunderts verwendet die Verfahren fiktionalen Erzählens überwiegend mimetisch zur Erzeugung einer Realitätsillusion. So postuliert Theodor Fontane, der Roman solle uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen lassen. Im 20. Jahrhunert mehren und verstärken sich dagegen die Versuche, den Charakter der Fiktionalität hervorzukehren und dadurch bewußt zu machen.
Diese antimimetische Tradition des Erzählens, die einzelne Vorbilder schon im 18. und 19. Jahrhundert hat, prägt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunert insbesondere die angloamerikanische, französische und italienische Erzählliteratur. Metafiction wird zu einem Sammelbegriff für fiktionale Erzähltexte, die selbstreflexiv und systematisch die Aufmerksamkeit auf ihren Status als Artefakte lenken, um damit die Beziehung zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu problematisieren. (Patricia Waugh) Damit reagiert Gegenwartsliteratur zweifellos auch auf die zunehmende Schwierigkeit, innerhalb der Lebenswelt zwischen 'Wirklichkeit' und Fiktion zu unterscheiden. Was wir - insbesondere in der Vermittlung durch die modernen Massenmedien - als 'Wirklichkeit' erleben, ist bereits medial produzierte Pseudowirklichkeit - also nicht mehr kenntliche Fiktion, sondern undurchschaubare, tendenziell allumfassende Simulation (Jean Baudrillard).

© JV

Sekundärliteratur

  • G. Gabriel: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur, Stuttgart 1977.
  • H. Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt/M. 1990.
  • J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 7. Aufl., Opladen 1990.